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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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etwas Schweres, Ernstes in den Armen zu halten, ohne Bewegungen und ohne eine Spur von Anmut. Ein, zwei Mal hatte er ironisch gesagt, ein wenig schüchtern, in Angst, sie zu verletzen: Warum umarmst du mich eigentlich nicht? sie war verblüfft: Ich umarme dich nicht? Nein, tust du nicht, erwiderte er perplex, du lässt dich nur umarmen. Sie wurde nachdenklich, seltsamerweise schien die Vorstellung sie zu belustigen. Und einmal hatte er in seiner Verwirrung sogar gesagt: Du sollst mich nicht zwicken. Wie Blinde trafen sie sich hin und wieder verkrampft, anmutig und fast wütend vor Scham. Zwar spürte er manchmal, dass sie vage versuchte, den Rhythmus zu ändern, in dem sie schaute und lebte, ihm zuliebe, aber er wusste, dass ihr das so schwerfallen würde, wie inmitten eines Albtraums die Augen aufzuschlagen und sich in einen weicheren Schlaf zu stehlen. Kurzum – er runzelte die Stirn, da er das komisch fand, zum Verzweifeln und peinlich – kurzum, sie war unbequem. Was für ein Mist!, dachte er und schauderte fast absichtlich, schüttelte sich dabei, befreite sich von dem schwierigen Gefühl. Erneut fühlte er sich ruhig und streng. Ein weiteres Mal versuchte er, sich langsam zu erinnern, von Anfang an, in der Hoffnung, den genauen Punkt zu treffen, der in ihm pulsierte und doch verschlossen blieb. Er erinnerte sich an den Tag, an dem er Virgínia kennengelernt hatte – den vollen, gelassenen Körper, den dünnen Pony, den blassen Hals und vor allem, während am Klavier ihr schöner und eingebildeter Bruder nach Gehör einen Walzer spielte, angespannte und glühende Musik –, sie war wie ein welkes Kind, welk wie eine Blume zwischen den Seiten eines dicken Buchs. Der Bruder spielte, füllte den Raum. Er erinnerte sich daran, wie der Walzer einen schleppenden Rhythmus hatte, er dachte mit einem Anflug von Sympathie, einem Lächeln, das ihm guttat, an jenen fernen Jungen, der da am Klavier saß mit seinen glatten, sauber frisierten schwarzen Haaren, in sommerlicher Kleidung. Wenn man Virgínia ansah, spürte man nicht einmal eine gegenwärtige Verzweiflung, vielmehr war es wie die Spur einer Verzweiflung aus der Vergangenheit, lange verloren und eben deshalb nun für immer unlösbar. Er brachte den Gedanken schnell zu Ende, um einen anderen anzuschließen, der sich damit überschnitten hatte – ja, Daniel spielte die Lustige Witwe ausgezeichnet, aus dem Gehör und mit Variationen, er erforschte sie, wie Vicente sie noch nie gehört hatte, mit Glut und Kraft. Die Erinnerung an die so abgerundete, ruhige Musik war genau, was er sich gewünscht hatte, und er begann traurig und lustvoll zu pfeifen. Wie Virgínia die Finger leicht an die Lippen presste, jämmerlich verliebt in ihre Weichheit. Er hatte sie später gebeten, keinen Pony mehr zu tragen, als ob ihn die freundliche, einfache Ausstrahlung stören würde, die ihr zu eigen war. Ohne den Pony war sie wenigstens so etwas wie eine große, kühle Frau, beinahe ein bestimmter Typ. Gleichzeitig schien sie so viel von sich selbst zu wissen. Er selbst wäre nie im Leben darauf gekommen, sich klarzumachen, dass er einmal eine gelbe Blume in einem Wasserglas geliebt hatte. Doch nachdem sie das erwähnt hatte, dachte er: Aber ja, aber ja … Ich hätte das auch schön gefunden oder habe es auch mal… Sie schien jederzeit bereit, mit kontrollierter Vorsicht eine zerlumpte Erinnerung aus der Kindheit zu holen wie aus einer Schatzkiste, verschimmelt und mit Rauch dahinter. Und sie füllte mit ihrer törichten, geheimen kleinen Erzählung den Raum. In gewisser Weise fügte sich das, was sie erlebte, zu ihrer Kindheit und nicht zur Gegenwart hinzu, reifen ließ es sie nie. Davon, wie sie war, konnte man alles erwarten, bis sie dann sterben würde von einem Moment auf den nächsten, ohne Schmerz, ohne nichts, und ihn entgeistert zurücklassen, fast schuldig. Mit einer gewissen Überraschung bemerkte er, dass ihm dieser Gedanke schon einmal gekommen war, und verband das mit dem Umstand, dass sie ihm erzählt hatte, irgendwer, vielleicht eine Zigeunerin aus ihrem Dorf, die mit ihren Prophezeiungen schrecklich danebenlag, habe ihr und Daniel einen plötzlichen Tod vorausgesagt. Er fühlte sich nicht … Er fühlte sich nicht sicher bei ihr, er fürchtete sich immer vor dem, was sie ankündigen könnte, er hatte sich daran gewöhnt, aus ihrem Gleichmut irgendein unbequemes Wort zu erwarten. Manchmal, wenn er sie in seinen Armen hielt, fragte sie mit sanfter, müder

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