Der männliche Makel: Roman (German Edition)
folgen und ihn sogar, den Tränen nah, zittrig anzulächeln.
»Das weiß ich, Robbie … vielen Dank«, brachte sie mühsam heraus, wobei sie beinahe zu weinen angefangen hätte. »Das ist sehr nett von dir. Aber würdest du mich jetzt bitte entschuldigen … ich muss dringend telefonieren.«
Kapitel sechzehn
Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sich Helen Elliot Sorgen um ihre Schwester gemacht. Schließlich hatte es dafür nie einen Grund gegeben. Sorgen? Um Eloise? Um die Frau, die völlig unabhängig war und mit links das ganze Land hätte regieren können? Absolut zwecklos.
Doch nun war Helen wirklich und wahrhaftig besorgt.
Sie hatte Eloise aufmerksam beobachtet und erkannte klar und deutlich, dass ihre Schwester nicht mehr sie selbst war. Und zwar seit dem Firmenevent. Bis zu dem fraglichen Wochenende war sie offen, freundlich, gesprächig und schlagfertig gewesen, sodass es Spaß machte, mit ihr zusammen zu sein. Inzwischen zog sie sich wieder zurück und schleppte sich meistens schweigsam und niedergeschlagen durchs Haus.
Außerdem aß und schlief sie nicht. Helen schloss das daraus, dass ihr seit einiger Zeit weicher und rosiger gewordenes Gesicht allmählich wieder bleich und eingefallen wurde. Nacht für Nacht hörte sie, dass sie im Arbeitszimmer auf dem Computer tippte und, wenn überhaupt, frühestens um drei oder vier Uhr morgens zu Bett ging.
Bis zu diesem verdammten Wochenende hatte sie so eine schöne Zeit mit Eloise gehabt, sagte sie sich. So viele Jahre lang hätte sie das nicht für möglich gehalten. Und jetzt war es plötzlich vorbei.
Allerdings gelang es ihr nicht, ihre Schwester auf das Thema anzusprechen. Natürlich kam Eloise noch immer jeden Abend pünktlich von der Arbeit nach Hause, um Lily zu sehen, ihr etwas vorzulesen und mit ihr zu spielen, bevor sie ins Bett musste. Das waren die einzigen Momente, wenn Helen den Anflug eines Leuchtens in ihren müden Augen bemerkte. Doch ansonsten war sie einsilbig. Wenn Helen sich nach ihrem Befinden erkundigte, lautete die Antwort: »Ach, gut, so wie immer. Ich geh mal ins Arbeitszimmer und frage meine Mails ab.«
Das war alles bloß wegen Jake, das war Helen sonnenklar. Die Frage war nur, was sie nun tun sollte. Eloise hatte ihr alles erzählt, und Helen hatte nicht gewusst, was sie sagen sollte. Sie wagte kaum, sich auszumalen, was Jake empfunden haben mochte, als er die Wahrheit erfuhr. Und eigentlich konnte sie es ihm nicht zum Vorwurf machen, dass er jetzt ein wenig Abstand brauchte.
Vorausgesetzt, dass es wirklich nur eine vorübergehende Auszeit war.
Allerdings hatte Jake sich offenbar endgültig in Luft aufgelöst. Er war sogar mit Sack und Pack aus Helens Wohnung ausgezogen, und sie hatten keine Ahnung, wo er stecken könnte.
Helen hatte das herausgefunden, als sie eines Abends heimlich hingefahren war, während Eloise oben Lily ins Bett brachte und ihr eine Gutenachtgeschichte vorlas. Sie hielt es nämlich nicht mehr aus und konnte die tiefe Trauer ihrer Schwester nicht länger ertragen.
Offenbar bedeutete Jake Eloise sehr viel. Das konnte Helen als Expertin in Sachen Zwischenmenschlichkeit deutlich erkennen. Bis vor Kurzem hatte es ständig »Jake sagt«, »Jake findet«, »das muss ich Jake erzählen, der lacht sich kaputt« geheißen. Helen hatte schmunzelnd zugehört und sich gefragt, ob ihre Schwester sich wohl selbst eingestand, wie wichtig er ihr war. Offenbar mochte sie ihn wirklich, denn anders als früher kämpfte sie sich nicht mehr verbissen durchs Leben oder verschloss sich gegenüber ihren Mitmenschen. Außerdem schien er großartig zu Eloise zu passen, die weniger einen Lebenspartner als einen wirklichen Freund brauchte. Allerdings war ihre Schwester, wie Helen nur zu gut wusste, schon seit ihrer Kindheit eine Meisterin darin, ihre Gefühle zu verbergen, sodass es ihr in Fleisch und Blut übergegangen war, sie nicht einmal selbst zur Kenntnis zu nehmen.
Im nächsten Moment hatte Helen eine Idee. Sie rief die Auskunft an und ließ sich mit der Sprachenschule in der Camden Street verbinden, wo Jake unterrichtete. Es reicht, dachte sie sich. Wenn Eloise nicht den ersten Schritt macht, erledige ich das. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es erst halb vier war. Sicher würde sie jemanden erreichen, der zumindest wusste, wann er den nächsten Kurs geben würde.
»Englisches Spracheninstitut, wie kann ich Ihnen helfen?«, ertönte eine gelangweilt und gleichgültig klingende Stimme.
»Äh … ja, hallo. Ich
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