Der magische Stein
Isa!«
»Und?«
»Moment noch.« Carlotta schaute sich das Patent sehr genau an. Um die fremden Glieder zu lösen, musste sie die anderen beiden an den Längsseiten eindrücken, damit die Lücke entstand, die auch zuvor da gewesen sein musste, um die einzelnen Glieder miteinander zu verbinden.
Carlotta war ein junger Mensch. Allerdings auch mit besonderen Kräften ausgestattet, und durch den Druck ihrer Daumen schaffte sie es, die eine Seite nach unten zu drücken. Durch die Lücke zog sie das fremde Kettenglied hindurch, und sie nahm sofort danach den zweiten Versuch vor. Auch das klappte, und der Erfolg war sogar zu hören, denn die Kette rutschte klirrend am halbnackten Rücken der Frau zu Boden.
Isa hatte das Geräusch gehört und flüsterte mit schwacher Stimme: »Fertig?«
»Ja.«
»Danke.« Ihre Stimme klang erstickt. Die Erleichterung drückte ihr die Tränen in die Augen. Dann wollte sie sich erheben, aber Carlotta warnte sie.
»Du musst jetzt einfach nur langsam vorgehen und dich daran gewöhnen, dass es kein Gewicht mehr an deinem Körper gibt. Am besten ist es, wenn ich dich etwas massiere.« Das wusste Carlotta von ihrer Ziehmutter, die sich von ihren sehr kräftigen Händen gern massieren ließ.
Isa stöhnte leise unter den verschiedenen Drucken auf. Aber es war ein sehr wohliges Stöhnen, und sie beschäftigte sich wieder mit ihrer beider Schicksal.
»Kennst du die Männer in Grau?«, fragte Isa.
»Nein, nie gehört.«
»Sie gehören zu Aibon. Ich halte sie für die Boten des verfluchten Guywano. Er schickt sie los, um Menschen zu entführen.«
»Auch bei dir?«, wollte Carlotta wissen.
»Leider auch bei uns. Sie sind grausam und töten sofort, wenn sich jemand gegen sie stellt. Sie besitzen Steine, die mit einer zerstörerischen Kraft gefüllt sind.«
»Und wie zeigt sich das?«
»Durch schwarze Strahlen, die sie auf die Reise schicken«, erklärte Isa. »Darunter zerfallen die Menschen. Da löst sich das Fleisch und ebenso die Haut von ihren Knochen, so grausam das auch ist. Aber mit dieser Tatsache musst du dich abfinden.«
»Danke, dass du mich gewarnt hast.« Carlotta’s Hände kneteten weiterhin bestimmte Stellen am Körper, damit die Zirkulation des Blutes wieder in Gang geriet.
»Wir gehören doch jetzt zusammen.«
»Das kannst du laut sagen.« Carlotta löste ihre Hände von Isa’s Körper. »Und da wir zusammengehören, denke ich, dass wir versuchen sollten, gemeinsam zu fliehen.«
Isa lachte, bevor sie fragte: »Wohin denn?«
Carlotta ging um sie herum. Sie sah, dass sich die Frau die Handgelenke knetete. Das kurze Hemd an ihrem Körper war verrutscht. Die kleinen, spitzen Brüste lagen fast frei.
»Weg von hier!«, sagte das Vogelmädchen.
»Kennst du den Weg?«
»Nein. Ich habe mich mit Aibon nicht beschäftigt und gehe daher davon aus, dass du ihn kennst.«
Ein trauriger Ausdruck erschien auf dem Gesicht der jungen Frau. Sie senkte den Kopf. »Da muss ich dich leider enttäuschen, Carlotta. Ich kenne ihn auch nicht.«
»Wir könnten durch die Luft fliehen.«
»Vergiss es.«
»Jedenfalls will ich hier nicht bleiben«, stellte Carlotta klar. »Hast du nicht von einem Grenzgebiet gesprochen, in dem wir uns aufhalten?«
»Habe ich.«
»Dann sehen wir zu, dass wir es verlassen und auf die andere Seite gelangen.«
Isa lächelte. »Du bist toll, Carlotta, wirklich. Aber so leicht wird es nicht sein. Man weiß, dass wir hier sind, und man wird uns nicht so leicht weglassen. Das haben schon andere versucht.«
»Eben!«
»Und sind gescheitert!«
Das Vogelmädchen hielt sich mit einem Kommentar zurück. Es wollte Isa keine übergroße Angst einjagen, denn die kannte sich hier besser aus. Trotzdem dachte Carlotta nicht an Aufgabe.
So gut es ging blickte sie sich in diesem grünen Dämmer um, das an verschiedenen Stellen hellere Farbtöne aufwies. Viel zu sehen war trotzdem nicht. Büsche, Farbe und Bäume, die sich unter der Last ihrer Zweige und Äste zu biegen schienen.
Nichts summte in dieser Gegend. Es gab keine Insekten, auch keine anderen Tiere. Dieser Teil des Reiches Aibon war zum Schweigen verdammt und bereitete einen Eindringling auf das vor, was ihn möglicherweise in dem anderen Teil erwartete.
Isa versuchte jetzt aufzustehen. Die lange Fesselung hatte ihre Spuren hinterlassen. So fiel es ihr nicht leicht, sich in die Höhe zu stemmen. Auf dem Weg dorthin musste sie immer wieder von vorne beginnen. Carlotta unterstützte sie.
Als Isa endlich stand,
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