Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
kehren, indem sie ihm Bergland vorschlug, den Ort, an dem ihre Großmutter ihr Leben lang gewohnt hatte, bis sie vor ein paar Jahren gestorben war. Er antwortete nicht, und sie fürchtete schon, dass er nun zur Strafe einen Ort aussuchen würde, der besonders weit von dem kleinen Küstendorf entfernt lag. Trotzdem wagte sie noch zu sagen, dass viele Einwohner ausgewandert waren und die Wohnungen deshalb günstig zu haben waren, und die Fischereibetriebe bräuchten dringend Mitarbeiter. Ob ihn diese Hinweise überzeugten oder ob ihn das bis dato unentdeckte schlechte Gewissen schlug, erfuhr sie nie, aber einen Tag später, nach einer kalten, schlaflosen Nacht im Auto, kamen sie in Bergland an. Und schon wenige Stunden später eröffnete er ihnen, dass ihr neues Heim schon auf sie wartete. Wie er das Haus gefunden hatte, fand sie nie heraus, auch nicht, was er dafür bezahlt hatte, doch sie hörte nie wieder etwas von Miete, also musste er es wohl gekauft haben.
Obwohl sie es schon seit einer Weile geahnt hatte, bemerkte sie erst in diesem Herbst, dass Heidi nicht nur in ihrer motorischen und sprachlichen Entwicklung zurückgeblieben, sondern wirklich krank war. Sie lernte erst als Zweijährige das Laufen, fiel oft hin, wie die meisten Kinder, doch sie schien nie sicherer zu werden. Die Erkenntnis traf Andrea gnadenlos, als Heidi eines Tages über die Türschwelle stolperte und kopfüber auf den Küchenboden stürzte. Es war nicht das erste Mal, dass so etwas geschah, und wie schon früher stand sie alleine wieder auf, doch als sie sich mühsam wieder auf die Füße rappelte, sagte ihr Blick alles: Er sprach von der traurigen Erkenntnis, anders zu sein.
Edmund traute den Banken nicht, daher wurde sein Lohn in einem Kästchen im Schlafzimmer aufbewahrt. Wenn sie einkaufen sollte, schickte er sie mit einem oder zwei Hundertkronenscheinen los und achtete darauf, dass das Wechselgeld wieder in dem Kästchen landete. Doch das war noch zu Zeiten, als es in kleinen Kolonialwarenläden keine Kassenbons gab, und Andrea schummelte immer ein paar Kronen beiseite, die sie entweder in einem Schuh oder irgendwo in der Kleidung versteckte. Dieses Geld verwendete sie, um Spielsachen für die Kinder zu kaufen, kleine Porzellanpuppen, die sie als Geschenke von Tanten und Cousinen ausgab. Und Edmund schöpfte keinen Verdacht, zumindest zu Anfang nicht.
Die Sehnsucht nach Thea, der Nachbarin, die sich ihrer erbarmt hatte, als sie mit gesenktem Kopf gekommen war, um sich ein paar Lebensmittel zu erbetteln, wurde täglich stärker, und nach einem Monat beschloss Andrea, ihr zu schreiben. Sie rechnete sich aus, wie lange es dauern mochte, bis die Freundin ihr zurückschrieb, und kam auf eine Woche. Es vergingen zwei Wochen, ohne dass sie etwas von Thea hörte, und sie schickte einen zweiten Brief, mit einer kaum verhohlenen Bitte um eine Antwort. Und die Antwort kam. In Form eines Faustschlags. Ohne Vorwarnung ging er auf sie los, als er von der Arbeit zurückkam, überschüttete sie mit Anschuldigungen und Schimpfworten, während sie benommen versuchte, sich auf den Beinen zu halten. »Herrschsüchtig nennst du mich also? Pass bloß auf, Weib!«
Sie hob die Hand, um weitere Schläge abzuwehren, doch sie konnte nicht verhindern, dass Tritte ihren Bauch und ihren Unterleib trafen. »So siehst du mich also? Einen herrschsüchtigen Alkoholiker?« Die Anklagen gingen auf sie nieder, und als er sich endlich fing – vielleicht weil Heidi und Konrad hereinkamen und ihn ablenkten –, hatte sie sich auf dem Boden zusammengerollt. Er hatte ihre Briefe an Thea also geöffnet und gelesen. Es kam ihr vor, als stünde die Zeit still. Er stand schweigend über ihr und atmete schwer. Sogar das kleinste Kind hielt vor Angst den Atem an, und als er endlich die Tür aufmachte, kamen die Worte, die sie härter trafen als alle Schläge: »Ab jetzt bleibst du im Haus.«
Um des lieben Friedens und der Kinder willen tat sie im Großen und Ganzen, was Edmund befohlen hatte, doch nicht immer. Einmal im Monat stahl sie sich davon und vertraute der Frau vom Nachbarhof ihre Kinder an. Sie hatte Heidi und Konrad genau instruiert und ihnen erklärt, dass der Vater schrecklich wütend werden würde, wenn sie sich verrieten, und dann wäre auch für immer Schluss mit den Puppen. Obwohl Konrad erst zweieinhalb Jahre alt war und Heidi geistig auf einem ähnlichen Stand, sagten ihre aufgeregten Blicke, dass sie nur zu gut verstanden. Und sie verrieten sich nie.
Es
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