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Der Mahlstrom: Roman (German Edition)

Der Mahlstrom: Roman (German Edition)

Titel: Der Mahlstrom: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frode Granhus
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zu Boden. Im Fallen meinte sie zu hören, wie die Tür aufging und sich jemand vor dem Eintreten den Schnee von den Füßen klopfte. Dann rief Edmunds Stimme ihren Namen. Bevor sie endgültig die Besinnung verlor, hörte sie, dass sein Tonfall sanft und schmeichelnd war. Darüber war sie froh. Wegen der Kinder.
    Was Edmund von dem Herbsttag wusste, an dem der Strom abgestellt wurde, erfuhr sie nie, und sie wagte auch nie zu fragen. Sie hatte ihre Strafe bekommen, und ohnehin hätte sie durch keine Erklärung Reue bei ihm hervorrufen oder das Ganze ungeschehen machen können.
    Sie schrieb einen Brief an Thea, erklärte ihr, dass Edmund die Briefe vor ihr versteckt hatte, und bat sie, ihre Antwort postlagernd zum Kaufmann am Ort zu schicken, mit dem sie sich abgesprochen hatte. Ohne Zögern hatte er sich bereit erklärt, den Mittelsmann für sie zu spielen.
    Es schien, als wüsste das ganze Dorf Bescheid.
    Fröhlich erledigte sie ihre Einkäufe, aber die erste Woche verging ohne eine Antwort, die nächste ebenso, und ihr wurde klar, dass Thea verloren war, aus welchem Grund auch immer. Erst vier Wochen nach ihrem Brief hielt der Kaufmann sie auf, als sie bei ihm vorbeikam. Mit einem breiten Grinsen stand er in der Tür und winkte ihr mit einem weißen Kuvert. Sie konnte nicht warten, bis sie zu Hause war, daher ging sie in die Bäckerei, wo sie sich auf die Toilette setzte und die sieben dicht beschriebenen Seiten las. Der Brief war nicht in Theas Handschrift abgefasst, sondern von einer Krankenschwester. Es war ein warmherziges Lebwohl an Andrea und an das Leben. Denn Thea war krebskrank und lag im Sterben. Es hieß, dass es sich – bestenfalls – noch um Wochen handeln konnte, und als Andrea auf der Toilettenschüssel der Bäckerei Bergland saß, wusste sie intuitiv, dass Thea ihren letzten Atemzug bereits getan hatte. Sie weinte und konnte den Strom ihrer Tränen gar nicht mehr aufhalten. Sie fasste sich erst, als jemand an der Tür rüttelte. Ein letztes Mal las sie den Brief, bevor sie ihn zerriss und hinunterspülte. Diese Worte sollte Edmund nie zu sehen bekommen.
    Mehr denn je wurde ihr Leben zur reinen Selbsterhaltung. Sie stand auf für die Kinder, lief von morgens bis abends auf Autopilot und sog die wenigen spontanen Augenblicke des Glücks in sich auf. Sei es, dass Heidi mal wieder einen kleinen Fortschritt machte, dass Konrad ihr seine hintergründigen Auffassungen von der Welt der Erwachsenen mitteilte oder dass sie mit einer neuen Puppe – verborgen unter ihren Kleidern – nach Hause kam. Obwohl sie mittlerweile eine ganze Menge Puppen besaßen, merkte es keiner, wenn Andrea eine neue besorgt hatte. Ab und zu kam es freilich vor, dass die Kinder eine Puppe vermissten. Sie ließ die Kinder suchen und streiten, bis sie eine neue Puppe hinter einen Stuhl oder eine Bank legte.
    Edmunds neuester Broterwerb war die Jagd, vielleicht weil seine gichtkranken Finger mit den Fallen noch zurechtkamen, vielleicht aber auch nur, weil es ihm gefiel. Und sie musste die Tiere weiterhin häuten. Manchmal dachte sie, dass es in den Bergen rund um Bergland bald keine Vögel und Raubtiere mehr geben konnte, doch immer wieder spazierten welche in Edmunds selbstgebastelte Fallen, was die Kinder und sie schier zur Verzweiflung brachte. Vor allem Konrad. Der Junge war ein empfindsames Kind, das über einen erschlagenen Vogel Tränen vergießen konnte und es sich zur Aufgabe machte, alles vor der brutalen, gefährlichen Welt zu retten, was kriechen oder laufen konnte, bis hin zum Insekt. Konrad, der Kämpfer für die Schwachen, der sich schon rührend um Heidi und Linea kümmerte, vor allem um Linea, für die er wahrscheinlich durchs Feuer gegangen wäre. Er wusste natürlich, dass sein Vater jagte, und auch, dass seine Mutter die Tiere häutete und zerlegte, doch sie achtete immer darauf, dass er nicht unverhofft in so einem Moment dazukam, denn sie hatte Angst, dass diese Eindrücke unauslöschliche Spuren in ihm hinterlassen würden. Als er eines Tages eifrig zu ihr gerannt kam und ihr stotternd etwas ins Ohr flüsterte, damit sein Vater es nicht hörte, ahnte sie schon, dass diese Geschichte nur in einer Tragödie enden konnte. Er hatte ein verlassenes, verletztes Fuchsjunges gefunden, das nicht weit entfernt in einer Höhle an einem Hang lag. Sie erklärte ihm, dass der Fuchs in die Natur gehörte, und bat ihn, das Jungtier dorthin zurückzutragen, wo er es gefunden hatte, doch Konrad gab nicht nach, nicht mal, als sie

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