Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
kann nicht besonders heftig gewesen sein«, stellte er fest. »Vielleicht hat er sie auch bloß gestreift.«
»Sie aber trotzdem umgebracht?« Brocks klang hoffnungsvoll.
»Das ist die Frage. Nichts ist zerbrechlicher als der menschliche Körper. Und nichts ist zäher. Es kommt immer drauf an. Ein Wespenstich kann töten. Andere Menschen überleben jahrelange Folter. Mit anderen Worten: Der Schlag kann das Mädchen umgebracht haben, aber höchstwahrscheinlich war es nicht so.« Der Alte legte den Schädel wieder auf den Tisch. »Was eine ganze Reihe von möglichen Szenarien eröffnet. Wenn der Schlag sie nicht getötet hat, warum ist sie dann nicht noch öfter geschlagen worden? Wäre es logisch, dass ein eventueller Mörder nur einmal zuschlägt? Ich frage nur. Der nächste Schlag hätte natürlich auch einen anderen Körperteil treffen können, aber ansonsten kann ich am Skelett keine Verletzungen finden.«
»Sie könnte erstochen worden sein.« Diesmal wagte Niklas einen Vorstoß.
»Kann sein. Aber wie Sie sehen, haben wir leider keinen Körper aus Fleisch und Blut mehr. Wir haben nur Knochen. Wenn Sie also nicht plötzlich eine neue Wundermaschine der Rechtsmedizin produzieren, befürchte ich, dass Ihnen diese Frage nie beantwortet werden kann.«
Es vergingen ein paar Sekunden in nachdenklicher Stille.
»Ein anderes Szenario wäre, dass sie bewusstlos geworden ist und dann lebendig begraben wurde.«
Plötzlich schien die Luft im Krankenhauskeller klamm und erstickend. Es war eine ungeheuerliche Andeutung, aber der alte Arzt war eben nur brutal ehrlich.
»Können Sie etwas darüber sagen, wie lange sie begraben war?« Auch Lind schien die Vermutung des Arztes schwer mitzunehmen, denn seine Haut verfärbte sich vom Hals bis zum Haaransatz fleckig rot.
»Ich würde schätzen, sie lag dort, seit sie als vermisst gemeldet wurde, aber auf diese Frage können Sie eine ganz klare Antwort bekommen. Nur nicht von mir. Sie haben mich um eine schnelle Einschätzung gebeten, und die haben Sie bekommen. Ein Schlag, mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen. Ein Schlag, der nicht sonderlich gut getroffen hat. Oder nicht besonders heftig war.«
Obwohl es bei der nächsten Ermittlungsbesprechung mehr Fragen als Antworten gab, spürte Niklas, dass Brocks wieder etwas freier atmete, nachdem die Verantwortung offiziell den Leuten vom Landeskriminalamt übertragen worden war. Der Fund der Knochenreste, die wahrscheinlich der Schwester des Wanderers gehörten, deutete auf ein neues Verbrechen hin, und bevor die Obduktion abgeschlossen war, behandelten sie den Fall, als könnte es sich um Mord oder einen Mordversuch handeln, und setzten ihre Prioritäten entsprechend. Niklas fand, dass es an Verantwortungslosigkeit grenzte, Lineas Fall von den anderen auszuklammern, die Augen davor zu verschließen, dass ihr Schicksal etwas mit den Ereignissen der letzten Tage zu tun haben könnte. Denn die Puppen sprachen eine deutliche Sprache, auch wenn man kaum hatte vorhersehen können, dass Regen und abrutschende Erdmassen das Mädchen ausgerechnet jetzt freilegen würden.
Ellen Steens Zustand war unverändert, und keine der kürzlich durchgeführten Befragungen hatte ein neues Licht auf die Sache werfen können. Was Sara Halvorsen betraf, standen immer noch ein paar Vernehmungen aus, um das Bild von ihr zu vervollständigen, doch sie war definitiv der Paradiesvogel des Dorfes gewesen, eine Aussteigerin aus dem Rennen ums Geldverdienen, die sich entschlossen hatte, im Einklang mit der Natur zu leben. Doch nichts deutete darauf hin, dass sie Feinde gehabt hatte. Sandsbakk, der Ermittlungsleiter, behauptete jedoch hartnäckig, dass mangelnde Erkenntnisse in dieser Richtung nur darauf zurückzuführen waren, dass man nicht tief genug gegraben hatte. Denn niemand wurde nur gemocht.
Als die neuen Aufgaben verteilt wurden, wurde Lind auf die Gestalt aufmerksam, die gerade die Straße überquerte und Kurs auf das Polizeipräsidium nahm. Als er aufstand, um der zerrupften Erscheinung entgegenzugehen, schloss Niklas sich ihm an.
Der Wanderer klopfte kaum hörbar an die Tür, als kostete ihn die Bewegung mehr Kraft, als er eigentlich hatte.
Er trug noch immer denselben Pullover, doch er war jetzt noch dreckiger als vor ein paar Stunden, und wieder hatte er seinen treuesten Begleiter, den Spaten, dabei. Er musterte ihn nachdenklich, als wollte er einschätzen, ob er zu schmutzig war, um ihn mit hineinzunehmen, dann stellte er ihn vor der Tür
Weitere Kostenlose Bücher