Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
unten gießen«, sagte Zoroastro. Er stand mit Leonardo an der großen Grube, wo sie den Fortgang der Arbeiten studierten. »Dann füllt sich der schwerste Teil zuerst und die zerbrechlicheren Beine und der Schweif zuletzt.«
»Daran habe ich auch schon gedacht. Aber da gibt es ein Problem. Das Grundwasser.«
»He?«
»Die Corte Vecchia steht, wie man am Wasserstand in den Schlossgräben erkennen kann, nicht sehr hoch über dem Grundwasserspiegel. Wenn wir die Grube also tief genug graben würden, um das Pferd mit dem Kopf nach unten und nicht auf der Seite liegend zu gießen, befände sich der Kopf nach meinen Berechnungen nur noch höchstens einen braccio über dem Grundwasser. Regnen dürfte es dann auf gar keinen Fall!«
»Wieso?«
»Wenn der Grundwasserspiegel steigt und die Gussform feucht wird, bekommen wir Probleme mit dem Aushärten der Bronze.«
»Ach so!«, entfuhr es Zoroastro, der nicht so weit gedacht hatte.
»Es geht nur auf der Seite liegend. Das entspricht ja auch schließlich der Natur eines Pferdes.«
»Du bist wie der Starke, der den Schwachen verprügelt.«
Leonardo sah Zoroastro verwundert an. »Was willst du damit sagen?«
»Du machst Menschen, die nicht mit deinem überragenden Verstand gesegnet sind, gnadenlos klein.«
»Wenn das wirklich meine Absicht wäre, müsstest du dir jetzt wie ein sechsjähriges Kind vorkommen«, sagte Leonardo ernst. Er blickte zu Salaì, der gemächlich zu ihnen herübergeschlendert kam. »Bist du fertig mit deiner Arbeit?«
»Du hast Besuch«, erwiderte der Junge und tat geheimnisvoll. »Eine Dame, wenngleich nicht mehr die Jüngste.« Er mied Leonardos Blick.
Leonardo ließ Zoroastro allein und begab sich zu dem Salon auf der anderen Seite des Hofes, den er hatte herrichten lassen, um hohe Kunden in einem entsprechenden Rahmen empfangen zu können.
Die ältere Dame stand mit dem Rücken zu ihm, als er den Salon betrat. Sie studierte, eine kleine Brille vor ihre Augen haltend, eine der Zeichnungen von seiner Reise in die Alpen. Als die Frau Leonardo hereinkommen hörte, ließ sie ihre Brille sinken und wandte sich langsam zu ihm um. Sie sah ihn forschend an und fragte ein wenig unsicher: »Leonardo?«
Ihre Stimme hatte sich nicht verändert.
Leonardo war einige Sekunden lang völlig perplex und wusste nicht, was er sagen sollte. Das Wort »Mutter« wollte ihm irgendwie nicht über die Lippen kommen.
Caterina versuchte einen beiläufigen Ton anzuschlagen: »Das ist eine Weile her, nicht wahr?«
Verblüfft starrte Leonardo die alte Frau an, die überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit dem Bild hatte, das er von Caterina im Gedächtnis hatte. Dem hatte sie zwar auch bei ihrer letzten Begegnung in Campo Zeppi nicht mehr entsprochen, doch jetzt war es noch weit drastischer. Ihre faltige Haut hatte die Farbe von altem Pergament angenommen, und ihr Haar, das in dünnen Strähnen unter ihrer schwarzen Haube hervorhing, war schlohweiß geworden. Klapperdürr, wie sie war, stand sie da, als müsse sie sich gegen den Wind stemmen. Nur ihre leicht nasal klingende Stimme war die gleiche geblieben.
Als er sie nur stumm anstarrte, sagte sie: »Mein Mann ist tot, und meine noch lebenden Kinder kümmern sich nicht mehr um mich. Du bist der Einzige von ihnen, dem ich das verzeihen kann.« Als er immer noch nichts sagte, blickte sie sich demonstrativ um. »Du bist ein vermögender Mann geworden, habe ich gehört.«
Leonardo gewann seine Fassung zurück. »Sagen wir, ich habe schon schlechtere Zeiten erlebt.«
Caterina nickte. »Ich bin völlig mittellos und habe kein Dach mehr über dem Kopf. Mein seliger Mann…« Sie brach ab. »Mit der Geschichte will ich dich lieber nicht behelligen.«
Leonardo horchte geradezu verzweifelt in sich hinein, wie es um seine Empfindungen bestellt war. Das völlig unerwartete Wiedersehen ließ ihn zwar nicht unberührt, aber viel mehr als Überraschung war es wohl nicht, was er empfand. Schließlich hatte er überhaupt nicht mehr daran gedacht, dass er noch eine Mutter hatte. Sie kam ihm nicht weniger fremd vor als eine gänzlich Unbekannte – und doch auch wieder nicht…
Er schrak auf, als sie fragte: »Könntest du mich bei dir aufnehmen? Ich will auch gerne dafür arbeiten. Ich kann weiß Gott kochen und putzen und waschen!« Letzteres entfuhr ihr wie ein Fluch.
»Ich habe eine gute Haushälterin«, entgegnete Leonardo und wurde sich im selben Moment bewusst, dass dies unter den gegebenen Umständen keine geschickte Antwort
Weitere Kostenlose Bücher