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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Vermeulen
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junge Mann nickte. »Genau nach Wunsch, Meister.« Er drückte Leonardo den Sack in die Hände, als sei er froh, ihn los zu sein.
    »Hat dich jemand gesehen?«
    Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Es war dort dunkel wie in der Hölle.«
    »Ich bezweifle, dass es in der Hölle dunkel ist, bei all dem Feuer…«
    »Hä?«
    »Nicht so wichtig.« Leonardo schaute zu Ambrogio, der misstrauisch hinter ihn getreten war. »Gib ihm einen fiorino .«
    Ambrogio griff kommentarlos zu seinem Beutel und bezahlte den Burschen. Der ließ die Münze so rasch verschwinden, dass es wie ein Zaubertrick wirkte.
    »Wenn Sie mich noch einmal brauchen, Meister…«
    »Dann weiß ich dich zu finden«, antwortete Leonardo. »Und jetzt geh.« Er zeigte zur Tür.
    »Wer war denn das?«, fragte Ambrogio mit gerümpfter Nase, als der junge Mann weg war.
    »Jemand, der der medizinischen Wissenschaft dient«, antwortete Leonardo. »Wenngleich ich bezweifle, dass er sich dessen bewusst ist.«
    Er ging mit dem Päckchen in sein Büro und schloss sorgsam die Tür hinter sich. Dann räumte er einen Tisch frei, der am einzigen Fenster des Raumes stand, öffnete den Sack und ließ den am Halsansatz abgetrennten Kopf eines Menschen herausrollen. Er zog eine schleimige Spur aus schwarzem Blut und feuchter Erde über den Tisch wie von einer großen Schnecke. Am Ende blieb er auf dem linken Ohr liegen. Die weißen Augen waren nicht ganz geschlossen.
    Leonardo begutachtete ihn kurz und holte dann Zeichen- und Schreibutensilien sowie einige scharfe Messer hervor, um sich an die Arbeit zu machen.
    »Mein Gott, was ist denn das?!«
    Leonardo fuhr hoch. Er war mit der Wange auf seinem linken Arm an dem Tisch eingeschlafen, an dem er gearbeitet hatte. Es war unterdessen dunkel geworden, wie er vage registrierte. Das Licht in seinem Büro kam von einer Öllampe, die Zoroastro bei sich trug. Offenbar neige ich neuerdings dazu, an den unmöglichsten Orten einzunicken, dachte er. Das konnte peinlich werden.
    Mit Grausen starrte Zoroastro auf den entfleischten menschlichen Schädel, der vor Leonardo auf dem Tisch lag, und vor allem auf die Überbleibsel von Fleisch und Haaren und sonstigem Unidentifizierbaren, die daneben aufgehäuft waren. Ein ekelerregender Geruch nach verdorbenem Fleisch stieg davon auf. Auf der anderen Seite der Tischplatte lag ein fleckiges Blatt Papier, mit Kohlestift in der typischen, fast unleserlichen Spiegelschrift bekritzelt, die Leonardo vorzugsweise für Notizen gebrauchte, die niemanden etwas angingen.
    »Ist es schon so spät?« Leonardo wollte sich die Augen reiben, bemerkte dann aber den Schmutz an seinen Händen. »Wasser«, sagte er und schaute sich suchend um.
    »Was hast du denn hier getrieben, um Gottes willen?«
    »Um Gottes willen? Nein, seinen selbsternannten irdischen Stellvertretern nach würde er das gewiss nicht gutheißen. Das hier nennt man Anatomie, mein Bester. Wie soll man den Menschen detailgetreu darstellen, wenn man nicht weiß, wie er unter seiner Haut zusammengesetzt ist?«
    »Manche sind darin aber ziemlich gut.«
    »Mag sein, doch ihre Werke bleiben seelenlos, sie malen nur die Oberfläche, die Haut. Als wäre ein Mensch oder jedwedes andere lebende Wesen nicht mehr als eine leere Hülle. Sie malen Gesichter, die leblose Masken sind, Körper wie von Stoffpuppen. Solche Figuren haben dem Betrachter nichts zu erzählen, haben keinen Charakter. Wo sind ihre Gedanken? Wo sind ihr Schmerz, ihre Freude, ihr Leid, ihre Wonne?«
    »Das geht mir aber ein bisschen zu weit…«
    »Längst nicht weit genug. Du solltest auch hin und wieder mal ein Buch lesen. Schon Aristoteles war auf der Suche nach dem Sitz der Seele, der Vernunft, der Phantasie, dem sensus communis , wie er es nannte, also dem Ort, wo die Sinneswahrnehmungen zusammenkommen und interpretiert werden. Er meinte, das müsse ein Organ mitten im Kopf sein. Das hat er aber nicht gefunden. Vielleicht gelingt es mir?« Leonardo hob den Schädel vom Tisch und drehte ihn in seinen Händen. »Auf jeden Fall glaube ich wie er, dass die Seele in der Tat im Kopf sitzt und nicht im ganzen Körper verteilt, wie es die Anhänger Platons dachten und immer noch denken. Denn warum sonst sollten die Sinneswerkzeuge im Kopf zusammenlaufen und nicht im Brustkasten oder im Magen oder im Arsch, wenn ich es so plastisch ausdrücken darf? Nein, Zoroastro, das Geheimnis steckt hier«, Leonardo tippte sich an den Schädel. »Welcher Nerv bewirkt, dass sich das Auge bewegt? Welcher,

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