Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
dass du die Stirn runzelst, und wie ist das mit den Gedanken koordiniert? Wann ziehst du die Augenbrauen hoch? Wann spitzt du die Lippen? Was geschieht, wenn ein Mensch schwitzt oder eine Gänsehaut bekommt? Woher rührt das Hungergefühl? Wie entsteht Schmerz? Warum muss man niesen? Und Wollust, was ist das?«
»Es wundert mich, dass du noch schlafen kannst.«
»Gelegentlich«, erwiderte Leonardo sarkastisch. »Und unverhofft. Im Bett liege ich meistens wach und suche nach Antworten auf die vielen Fragen, die mich quälen.« Er legte den Schädel wieder auf den Tisch zurück. »Morgen werde ich ihn in Längsrichtung teilen, damit ich die Ventrikel studieren und Proportionsstudien anstellen kann, woraus man ableiten können müsste, welche Koordinaten…«, Leonardo brach ab und seufzte tief. »Ich bin so verdammt müde!«
»Ich bringe dich ins Bett.« Zoroastro fasste ihn resolut unter den Armen und richtete ihn von seinem Stuhl auf.
»Der Abfall da…«
»Futter für Möwen und Ratten, das bringe ich dann in den Garten.« Zoroastro beförderte Leonardo zur Tür, und Leonardo ließ sich stützen. »Wir haben noch so viel zu tun, warum hast du ausgerechnet jetzt plötzlich mit… mit so einer Sektion angefangen?«
»Ich hatte schon seit geraumer Zeit das dringende Bedürfnis, einen Menschen zu zerlegen«, antwortete Leonardo ernst.
»Muss ich mich jetzt fürchten?«
»Das kann nie schaden. Furcht ist eine wichtige Voraussetzung dafür, in einer Welt voller Bosheit überleben zu können.«
Leonardo trug sich mit dem Vorhaben, ein ausführliches Buch über die menschliche Anatomie zu schreiben, doch da seine Werkstatt in der Tat noch eine ganze Reihe von Aufträgen fertigzustellen hatte, hielt er es zum jetzigen Zeitpunkt nicht für opportun, seinem Freund davon zu erzählen.
Er ließ sich von Zoroastro zur Treppe führen wie ein Betrunkener. Zoroastro hatte manchmal etwas Mütterliches an sich, wie er nicht zum ersten Mal feststellte. Und er selbst hatte es manchmal ganz gern, wenn man ihn behandelte wie ein hilfsbedürftiges Kind. Für ein Weilchen zumindest.
In dieser Nacht träumte er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder seinen Traum vom schreckenerregenden Ende der Welt, da die Menschen wie Ameisen und schreiend in Tümpeln brodelnden Magmas untergingen. Diesmal hatten alle vier Reiter der Apokalypse Totenschädel.
»In die Corte Vecchia?« Ambrogio sah Leonardo ungläubig an. »Diese Ruine?«
»Nein, keine Ruine, nur ein bisschen verwahrlost. Und wir haben dort viel Platz. Nicht nur für die Arbeit an Sforzas Pferd, sondern auch zum Wohnen.«
»Wer…?«
»Sforza selbst hat es so angeordnet«, sagte Leonardo kurz, um sinnlosen Diskussionen vorzubeugen. »Er hat mir zwar ein Haus am Stadtrand versprochen, aber das steht immer noch nicht zur Verfügung. Und für eine so große Werkstatt wäre es auch nicht geeignet.«
Die Corte Vecchia in der Nähe des Doms war vor der Zeit der Sforzas der Palast der Visconti-Dynastie gewesen. Dieser »Alte Hof« war nach wie vor ein imposanter, mit Türmen und Gräben befestigter Komplex, der freilich seit langem leer stand und teilweise verfallen war. Es gab dort eine Halle von mehr als hundert passi Länge und gut zwanzig passi Breite, und zum Wohnen standen viele Zimmer zur Verfügung, von denen etliche noch in brauchbarem Zustand waren. Hier konnte man also einen ganzen Trupp von Künstlern und Handwerkern unterbringen und vor allem besonders großformatige Projekte verwirklichen.
»Ich glaube, wir sollten dem Regenten dankbar sein«, sagte Zoroastro, der sich die Räumlichkeiten schon einige Tage zuvor mit Leonardo zusammen angesehen hatte. »Es gibt nicht viele, die eine so großzügige Behausung ganz und gar gratis bekommen.«
Ambrogio biss sich auf die Unterlippe und schluckte jeden weiteren Kommentar hinunter, wenngleich ihm die Corte Vecchia zu düster und kalt war. Aber das würde sich vielleicht bessern, wenn der Hof erst wieder bewohnt wurde. Und außerdem hatte er andere Sorgen. Sein Bruder Evangelista war schon seit längerem krank. Sein Husten hatte sich derart verschlimmert, dass er kaum noch arbeiten konnte. Manchmal hustete er sogar Blut, und bei der geringsten Anstrengung war er schweißgebadet. Der Chirurg hatte ihm einen Extrakt aus gelbem Hohlzahn gegeben, doch der schien bisher nicht zu helfen. Ambrogio befürchtete allmählich das Schlimmste. Eigentlich hatte er mit dem Rest der Familie am Bett seines Bruders bleiben wollen, aber er
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