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Der Maler

Der Maler

Titel: Der Maler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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allein mit ihrer Mutter, begann Astrid Meyers lebenslängliche Faszination für ihren Großvater Kurt Vogel.
    Vogel, ein starker Raucher, war 1949, zehn Jahre vor Astrids Geburt, an Lungenkrebs gestorben. Seine Frau Trude hatte zuletzt versucht, ihn aus den Bergen herauszubringen, aber Vogel, der die reine Gebirgsluft für ein Allheilmittel hielt, war nach Atem ringend zu Hause gestorben.
    Trude Vogel wußte fast nichts über die Arbeit ihres Mannes im Krieg, aber was sie wußte, erzählte sie Lisbeth, die es Astrid weitererzählte. Er hatte 1935 eine vielversprechende Anwaltskarriere aufgegeben, um in die Abwehr, den deutschen militärischen Nachrichtendienst, einzutreten. Vogel war ein enger Vertrauter des Abwehrchefs Wilhelm Canaris gewesen, den die Nazis im April 1945 wegen Hochverrats hingerichtet hatten. Er hatte Trude jahrelang getäuscht, indem er sich als Canaris' Rechtsberater ausgegeben hatte. Als der Krieg schon verloren war, hatte er ihr die Wahrheit gestanden: Er hatte Agenten angeworben und zum Spionieren nach England geschickt.
    Lisbeth erinnerte sich an eine dramatische Nacht.
    Ihr Vater hatte die Familie nach Bayern evakuiert, weil sie in Berlin nicht mehr sicher war. Sie erinnerte sich, wie er spät abends angekommen war; sie erinnerte sich an seinen Blick ins Kinderzimmer, in dessen Tür er schwach beleuchtet gestanden hatte. Sie erinnerte sich an die leisen Stimmen ihrer Eltern in der Küche, an den Geruch des Abendessens. Und dann hörte sie Geschirr klirren, hörte ihre Mutter erschrocken tief Luft holen.
    Gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Nicole kroch sie oben an die Treppe und sah hinunter. In der Küche saßen ihre Eltern und zwei Männer in schwarzen SS-Uniformen.
    Den einen Mann kannten sie nicht; der andere war Heinrich Himmler, der nach Hitler mächtigste Mann des Dritten Reichs.
    Lisbeth Vogel glaubte lange Zeit, ihr Vater sei ein Nazi, ein Mitarbeiter Himmlers und SS-Mann, ein Kriegsverbrecher gewesen, der lieber in den Schweizer Bergen gestorben war, als sich in seiner Heimat vor Gericht zu verantworten. Ihre Mutter, glaubte sie, sei insgeheim der gleichen Überzeugung. Nach dem Tod ihrer Mutter erzählte Lisbeth diese Geschichte Astrid, und Astrid wuchs in dem Glauben auf, ihr Großvater sei ein Nazi gewesen.
    An einem Nachmittag im Oktober 1970 rief dann ein Mann bei ihnen an und fragte, ob er sie besuchen dürfe. Er hieß Werner Ulbricht und hatte während des Krieges gemeinsam mit Kurt Vogel bei der Abwehr gearbeitet. Er sagte, er kenne die Wahrheit über Vogels Tätigkeit. Lisbeth sagte, er solle kommen.
    Eine Stunde später stand er vor ihrer Tür: ausgezehrt, leichenblaß, schwer auf einen Stock gestützt, mit einer schwarzen Klappe über dem linken Auge.

    Sie gingen eine Weile spazieren - Werner Ulbricht, Lisbeth und Astrid -, dann setzten sie sich ans grüne Seeufer und tranken Kaffee aus einer Thermosflasche. Obwohl die Luft schon herbstlich kühl war, war Ulbrichts Gesicht schweißnaß vor Anstrengung. Er ruhte sich einige Zeit aus, trank mit kleinen Schlucken seinen Kaffee und erzählte ihnen dann die wahre Geschichte.
    Kurt Vogel war kein Nazi gewesen; er hatte die Nazis glühend gehaßt. Er war nur unter der Bedingung zur Abwehr gegangen, nicht in die NSDAP eintreten zu müssen, und Admiral Canaris hatte ihm diesen Wunsch nur allzugern erfüllt.
    Er war nie Canaris' Rechtsberater, sondern Agentenführer gewesen, und zwar ein verdammt guter - gewissenhaft, brillant, auf seine Art skrupellos. Gemeinsam mit seiner erfolgreichsten Agentin in England fand er das wichtigste Geheimnis des zweiten Weltkriegs heraus, das die Engländer durch großangelegte Täuschungsmanöver zu schützen versuchten: Ort und Zeitpunkt der Invasion. Im Februar 1944 entließ Hitler jedoch Canaris und unterstellte die Abwehr Himmler und der SS. Vogel behielt sein Geheimnis für sich und schloß sich den Verschwörern der »Schwarzen Kapelle« an. Nachdem das Attentat am 20. Juli 1944 mißglückt war, wurden viele Mitverschwörer verhaftet und hingerichtet. Kurt Vogel konnte in die Schweiz fliehen.
    Lisbeth hatte feuchte Augen, als Ulbricht seine Erzählung beendete. Sie starrte auf die vom Wind leicht gekräuselte Oberfläche des Sees. »Wer war der zweite Offizier, der mit Himmler im Haus meiner Mutter gewesen ist?« fragte sie.
    »Das war Walter Schellenberg, ein hoher SS-Führer. Er hat nach Canaris' Entlassung die Abwehr übernommen. Ihr Vater hat ihn über die Einzelheiten der alliierten

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