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Der Maler

Der Maler

Titel: Der Maler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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grauen Morgen in Heathrow zu landen. Die London Station der CIA hatte angeboten, einen Wagen zu schicken, aber Michael wollte möglichst wenig mit ihr zu tun haben und nahm lieber ein Taxi. Er kurbelte sein Fenster herunter. Trotz des Dieselqualms fühlte sich die frische Luft auf seinem Gesicht gut an. London war acht Jahre lang sein Einsatzort gewesen; in dieser Zeit war er weit über hundertmal von Heathrow in die Londoner Innenstadt gefahren. Die trostlosen westlichen Vororte waren ihm vertrauter als Arlington oder Chevy Chase.
    Er bezog ein Zimmer in einem Mittelklassehotel in Knightsbridge mit Blick auf den Hyde Park. Er bevorzugte dieses Hotel, weil hier zu jedem Schlafzimmer ein kleines Wohnzimmer gehörte. Er bestellte ein komplettes englisches Frühstück und aß mit wenig Appetit davon, bis es spät genug war, um Elizabeth anzurufen. Er weckte sie, und sie führten ein stockendes Zweiminutengespräch, bevor sie wieder einschlief.
    Michael war müde; er legte sich hin und schlief bis zum frühen Nachmittag. Als er aufwachte, zog er seinen wetterfesten Jogginganzug an. Er hängte das Schild BITTE NICHT STÖREN an die Zimmertür und klemmte ein winziges Stück Papier zwischen Tür und Rahmen. Steckte es bei seiner Rückkehr noch dort, hatte vermutlich niemand den Raum betreten. War es nicht mehr da, war wahrscheinlich jemand drin gewesen.
    Unter bleigrauen, regenschweren Wolken trabte er durch den Hyde Park. Nach zehn Minuten öffnete der Himmel seine Schleusen. Londoner, die im Wind mit ihren aufgespannten Schirmen kämpften, starrten ihn an, als sei er ein ausgebrochener Irrer, als er an ihnen vorbeilief. Nach einer Viertelstunde bekam er keine Luft mehr und mußte eine Weile langsam gehen. Obwohl er mäßig rauchte, hatte er es über Jahre hinweg geschafft, einigermaßen fit zu bleiben. Aber jetzt forderten die Zigaretten ihren Tribut. Und Elizabeth hatte recht - er war um die Taille herum etwas dicker geworden.
    Er lief zum Hotel zurück. Als er die Zimmertür öffnete, fiel das kleine Stück Papier zu Boden. Er duschte, zog einen gedeckten Anzug an und fuhr mit einem Taxi zum Grosvenor Square, wo er dem Marineinfanteristen, der am Eingang Wache stand, seinen Ausweis zeigte. In Botschaften fühlte Michael sich stets unbehaglich, denn er hatte immer ohne offizielle Legende gearbeitet. In seiner Londoner Zeit war er nur in Notfällen in die Botschaft gekommen, und auch dann nur »schwarz«: auf der Ladefläche eines Kastenwagens, der direkt in die Tiefgarage fuhr. Am liebsten wäre er gar nicht hergekommen, aber die Doktrin der Zentrale erforderte einen Höflichkeitsbesuch beim jeweiligen Stationschef.
    Der Londoner Stationschef war ein Mann namens Wheaton, ein überzeugter Anglophiler mit bleistiftdünnem Schnurrbart, einem Nadelstreifenanzug aus der Savile Row und der höchst irritierenden Angewohnheit, mit einem Golfball zu spielen, wenn er nicht wußte, was er sagen sollte. Wheaton war ein Mann der alten Schule: Princeton, Moskau, fünf Jahre Leiter der Rußlandabteilung, bevor er zum Ende seiner Laufbahn den begehrten Job in London ergattert hatte. Er sagte, er habe Michaels Vater gekannt, behauptete aber nicht, ihn gemocht zu haben. Außerdem machte er ihm klar, daß sie in dieser Sache keine Hilfe von der Zentrale brauchten. Michael versprach, ihn über seine Erkenntnisse auf dem laufenden zu halten. Wheaton erklärte Michael höflich, er solle so schnell wie mö glich wieder aus London verschwinden.

    Das Taxi setzte Michael am Eaton Place vor dem weißen Haus im georgianischen Stil ab. Helen und Graham Seymour lebten in einem hübschen Stadthaus, und Michael konnte sie von der Straße aus wie Schauspieler auf einer Bü hne mit mehreren Ebenen sehen: Graham oben im Wohnzimmer, Helen im Basement in der Küche. Er ging die Treppe hinunter und klopfte an eine der kleinen Scheiben der Küchentür. Helen sah von ihrer Arbeit auf und lächelte strahlend. Sie machte ihm auf, küßte ihn auf die Wange und sagte: »Gott, Michael, ist das lange her!« Sie schenkte ihm ein Glas Sancerre ein und sagte: »Graham ist oben. Ihr könnt fachsimpeln, bis ich mit dem Abendessen fertig bin.«
    Graham Seymour war mit dem Feuer im Gaskamin beschäftigt, als Michael den Raum betrat. Auf dem Parkettboden des Wohnzimmers lagen kostbare Orientteppiche, an den holzgetäfelten Wänden hingen exquisite Artefakte aus dem Nahen Osten. Graham stand auf, lächelte und streckte die Hand aus. Die beiden betrachteten sich, wie es nur

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