Der Mann auf dem Balkon
er noch Kollberg mochten Gunvald Larsson, mit dem sie nur sporadisch zusammenarbeiteten - und das noch nicht mal seit langem. Er hatte den Verdacht, daß auch Melander diesen Kollegen nicht sehr schätzte, obwohl er sich nichts anmerken ließ. Gunvald Larsson hatte ein ausgesprochenes Talent, Martin Beck zu reizen, Auch jetzt fühlte er sich irritiert, aber diesmal hatte er den Eindruck, daß es nicht an der Person Gunvald Larssons lag, sondern an etwas, was er gesagt oder getan hatte. Martin Beck hörte Gunvald Larsson gleichsam etwas sagen, sah ihn etwas tun, etwas Wichtiges, was mit dem Mord im Park in Zusammenhang stand. Nur was es war, daran konnte er sich nicht erinnern. Eben das regte ihn am meisten auf.
Er schlug sich diese Gedanken aus dem Kopf und kletterte aus der Wanne.
Vermutlich hängt alles irgendwie mit dem Traum zusammen, dachte er, als er sich rasierte.
Eine Viertelstunde später saß er im Zug zur Stadt. Er schlug die Morgenzeitung auf. Auf der ersten Seite prangte ein Bild des Mädchenmörders, das der Zeichner der Polizei nach den mageren Zeugenaussagen angefertigt hatte, hauptsächlich nach Anweisung von Rolf Evert Lundgren. Keiner war damit zufrieden, am allerwenigsten der Zeichner und Rolf Evert Lundgren.
Martin Beck hielt die Zeichnung ein Stückchen von sich weg und betrachtete das Bild. Wie weit mochte es wohl dem Gesuchten ähneln? Sie hatten es auch Frau Engström gezeigt, die anfangs erklärte, es erinnere sie nicht im geringsten an ihren Mann. Später hatte sie zugestanden, daß vielleicht eine geringe Ähnlichkeit vorhanden sei. Unter dem Bild stand die unvollständige Personenbeschreibung, Martin Beck überflog den Text.
Plötzlich stutzte er, fühlte es heiß in sich aufsteigen und hielt den Atem an. Auf einmal wußte er, was ihn seit der Festnahme des Räubers beunruhigt und irgend etwas mit Gunvald Larsson zu tun hatte. Die Personenbeschreibung.
Gunvald Larssons Zusammenfassung der von Lundgren gegebenen Beschreibung stimmte fast Wort für Wort mit einer Personenbeschreibung überein, die Martin Beck gut zwei Wochen zuvor von Gunvald Larsson gehört hatte, als dieser sie am Telefon wiederholte. Martin Beck sah sich selbst am Aktenschrank stehen und zuhören, während Gunvald Larsson sprach. Melander war ebenfalls im Zimmer gewesen.
Das ganze Gespräch brachte er nicht mehr zusammen, glaubte aber, sich zu erinnern, daß der Anruf von einer Frau gekommen war, die einen Mann anzeigen wollte, der im Haus gegenüber auf einem Balkon stand. Gunvald Larsson hatte sie gebeten, den Mann zu beschreiben, und er hatte die Personenbeschreibung mit fast genau den gleichen Worten zusammengefaßt wie später die Angaben Lundgrens. Und außerdem hatte die Anruferin etwas davon gesagt, daß der Mann die Kinder beobachtete, die auf der Straße spielten.
Martin Beck faltete die Zeitung zusammen und starrte zum Fenster hinaus. Er versuchte, sich die Ereignisse dieses Vormittags in Erinnerung zu rufen. Den Tag wußte er noch genau - kurz nach dem Telefongespräch war er zum Bahnhof gegangen und nach Motala gefahren. Das war Freitag, der 2. Juni, gewesen - eine Woche vor dem Mord im Vanadislunden. Wenn die Frau ihre Adresse genannt hatte, würde Gunvald Larsson sie irgendwo notiert haben.
Je länger Martin Beck über seinen Einfall nachdachte, desto unsicherer wurde er. Die Beschreibung war so ungenau, daß sie auf Tausende von Menschen zutreffen konnte. Daß Gunvald Larsson in zwei Fällen genau die gleiche Formulierung anwandte, mußte nicht heißen, daß es sich um ein und dieselbe Person handelte.
Daß ein Mensch Tag und Nacht auf seinem Balkon stand, brauchte ihn nicht zum mutmaßlichen Mörder zu stempeln. Daß Martin Becks plötzliche Einfalle schon öfter zur Lösung schwieriger Fälle beigetragen hatten, brauchte nicht zu bedeuten, daß es auch diesmal der Fall sein würde.
Trotzdem. Es könnte sich lohnen, die Sache näher zu untersuchen.
Normalerweise stieg Martin Beck bei der Station T-Centralen aus und ging über den Klarabergsviadukt zur Kungsholmsgatan. Diesmal nahm er ein Taxi.
Gunvald Larsson saß an seinem Schreibtisch und trank Kaffee. Kollberg hockte auf der Schreibtischkante und kaute an einem Kopenhagener. Martin Beck setzte sich auf Melanders Platz, starrte Gunvald Larsson an und sagte: »Erinnerst du dich an die Frau, die an dem Tag anrief, als ich nach Motala fuhr? Sie wollte melden, daß ein Mann auf einem Balkon auf der anderen Seite der Straße stand.«
Kollberg
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