Der Mann auf dem blauen Fahrrad
diese Idee aber sogleich. Er spürte, dass der Anblick dieser Küche ohne Menschen noch erschreckender sein würde als die bevölkerte Küche, und außerdem wusste er nicht, ob er wirklich bereit war, die lebende Tote mit den Preiselbeerbirnen noch einmal zu sehen.
Er tat ein paar unsichere Schritte zurück in den Salon und entdeckte, dass er nicht mehr so leer war, wie er ihn verlassen hatte.
Eine Dame mit auffallend großen, hellblauen Augen, die braunen Haare im Nacken zu einem strengen Knoten geschlungen – er schätzte, dass sie in den Dreißigern oder vielleicht etwas älter war –, stand mitten im Zimmer, bereit, ihn zu empfangen.
Hatte sie nicht eigentlich eisblaue Augen? Sie stellte eine Herausforderung dar, ihr gesamtes Auftreten bewirkte etwas in Janne. Berührte ihn in seiner eigenen Existenz. War sie eben noch eine selbstverständliche Tatsache gewesen, war sie jetzt etwas, das einer gewissen Motivierung bedurfte.
Die Dame trug eine dunkelbraune Wildlederjacke, die militärisch anmutete, dazu eng anliegende braungrüne Reithosen und steckte, trotz des feinen Teppichs, in stark mit Lehm bespritzten Stiefeln. Die Jacke war geöffnet, und unter einem dunklen Sweater ließen sich die festen Brüste erahnen. Die Dame hielt ein Paar Handschuhe in der Hand, als hätte sie sie eben erst abgestreift. Janne fand sie insgesamt ziemlich imponierend. Aber vielleicht auch ein bisschen erschreckend. Wer mochte sie sein? Eine Art Chefin? Oder vielleicht die Besitzerin des Hofs? Herrin war das Wort, das ihm einfiel.
Gewiss hätte sie sich vorstellen können. Aber möglicherweise hielt sie Janne für allzu unbedeutend dafür. Er gehörte vielleicht nicht zu dem Personenkreis, dem sie sich gewöhnlich vorstellte. Und Janne mit seinen schmerzenden Handgelenken, tief beeindruckt, um nicht zu sagen, ziemlich erschrocken, traute sich keine Proteste zu. Es war tatsächlich genau der Typ Frau, der ihn immer sprachlos und machte und lähmte und zu dem er sich hilflos hingezogen fühlte.
Es hatte etwas mit ihrem Gesicht zu tun: Ihre schmale Nase und ihre vollen Lippen wollten nicht zusammenpassen. Man konnte den Eindruck bekommen, eine schöne Frau vor sich zu haben, deren verschiedene attraktive Seiten sich nicht richtig vertrugen.
– Es ist schade, dass Sie die Absage nicht bekommen haben. Offenbar ist etwas schiefgegangen. Wie Sie vielleicht verstehen, haben wir keine Verwendung mehr für Sie. Schade, dass Sie umsonst von so weit herfahren mussten. Sie hätten sich vielleicht anmelden sollen, Herr …?
– Friberg. Jan Viktor Friberg.
– Friberg. Sie sind also statt Herrn Dalborg gekommen? Aus Köping?
– Aus Västerås.
– Nun, das hat wohl keine größere Bedeutung. So wie es jetzt steht. Und Sie sind ja nicht blind? Ich sehe, dass Sie mich sehen.
– Nein, ich bin nicht blind. Ich bin ja mit dem Fahrrad gekommen.
– Bei diesem Wetter?
– Ich hatte einen Unfall. Ich bin nicht weit von hier mit dem Fahrrad auf dem Kies gestürzt. Und dann waren da ein paar Hunde.
– Lindéns Hunde?
– Mich schmerzen in der Tat die Handgelenke ein wenig.
– Aber Sie müssen den Flügel nicht stimmen, Herr Friberg!
– Danke, das ist sehr freundlich. Zu freundlich. Ich kann kein Klavier stimmen, bisher hat mich auch noch nie jemand darum gebeten.
– Sie sind also nicht hergekommen, um den Flügel zu stimmen?
– Nein, keineswegs. Und ich bin nicht blind.
Schweigen stellte sich ein.
Janne fiel nichts Interessantes zu sagen ein, und der so spannenden Dame offenbar auch nicht. In seiner Verwirrung nahm er die oberste Gedichtsammlung vom Tisch, um darüber eine Bemerkung zu machen, doch die Dame kam ihm zuvor.
– Es ist eine Originalausgabe. Von 1929. Sein allererstes Buch.
– Wie interessant.
– Sie interessieren sich für ihn, Herr Friberg?
– Ja. Seit ich hierhergekommen bin. Hat er vielleicht noch weitere Gedichtbände verfasst?
– Ja, sicher. Noch zwei. Und einen vierten, der nicht publiziert wurde.
– Wie schade.
– Da bin ich mir nicht so sicher. Er war noch jung, als er verschwand. In den Vierzigern. Meine eigenen Erinnerungen an ihn sind tatsächlich sehr vage. Und früh. Ich erinnere mich, dass er nach Eau de Cologne und Zigarillos duftete.
Abermals schwiegen sie. Keiner der beiden hatte eine gute Idee, wie dieses sonderbare Gespräch fortzusetzen wäre.
Nach gefühlt mehreren Minuten sagte die Herrenhausdame:
– Eigentlich ist es nicht ganz richtig zu sagen, dass er starb. Falls ich das
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