Der Mann auf dem blauen Fahrrad
mit der Herrin des Hauses.
– Ich würde mich nicht darauf verlassen, dass sie zurückkommt.
– Entschuldigung, wer?
– Irene. Meine Schwester. Die Herrin des Hauses. Die Reiterin.
– Darf ich fragen, warum?
– Sie hat so ihre Eigenheiten. Dazu gehört eine sehr lebhafte Phantasie. Sie hat vielleicht ihren poetischen Onkel erwähnt?
– Im Vorbeigehen, ja. Wir haben uns ein wenig unterhalten.
– Oh, das ist nicht gut.
Die nächste Pause währte noch länger.
– Wenn Sie in dieser Gegend so bewandert sind, haben Sie sicher gehört, dass er verschwunden ist? Dass er eines Tages einfach fort war?
– Ja, ich habe so etwas gehört. Ehrlich gesagt verstehe ich mich wirklich nicht besonders gut auf Poesie. Ich kenne mich auch nicht mit den Poeten dieser Gegend aus. Und im übrigen auch sonst nicht mit Dichtern. Er ist verschwunden?
– Er wurde zweiundvierzig. Die letzten Jahre war er nicht ganz er selbst. Er vernachlässigte seine Gesundheit, ziemlich gravierend. Er schloss sich einer Clique an, die sich unten am Bahnhofshotel in Kolbäck aufhielt. Sonderbare Typen. Wenn man ihn in dieser Gruppe sah, war es nicht so ganz leicht auszumachen, wer von ihnen ein berühmter Poet war. Er begann – für längere Perioden – sich in der Gegend von Stockholm herumzutreiben. Es war die Zeit des Alkoholschmuggels aus Estland. Wir sprechen ja von der Vorkriegszeit, frühe dreißiger Jahre, nicht wahr?
Damals herrschte in Finnland ein totales Alkoholverbot, und die Esten, nun ja, einige von ihnen, machten viel Geld mit dem Schmuggel nach Stockholm und nach Åbo. Aus irgendeinem Grund bevorzugte mein Onkel den dubiosen estnischen Alkohol. Es schien so, als würden ihn die Schmuggler und das Schmugglerleben ebenso sehr interessieren wie der Alkohol.
– Der kann ihm ja nicht besonders gut bekommen sein?
– Nein, wirklich nicht.
Erneut ein schwer zu deutendes Schweigen.
– Aber es wurde schlimmer. Im Herbst 1938 begann er zu behaupten, es gäbe jemanden im Haus, der ihm seine Gedichte wegnahm. Er schrieb sie, und plötzlich waren sie ganz einfach verschwunden.
Offenbar glaubte er wirklich, es gäbe eine seltsame Person im Haus. Die in den Herbstnächten die Treppen knarren ließ und imstande war, ihm seine sorgfältig gespitzten Bleistifte und frisch gefüllten Whiskygläser zu stehlen. Oder, was wohl immer öfter passierte, die Gläser hinter den Gardinen in den Fensternischen zu verstecken.
Er kam von einem seiner Spaziergänge zurück und behauptete, er habe im Bootshaus eine Botschaft gefunden. Die an ihn gerichtet sei. Emilia fragte, ob es möglicherweise ein Streich war, den wir Kinder ihm gespielt hätten. Hatte vielleicht jemand etwas an die Badehaustür geschmiert? Das war ja vorgekommen. Aber nein. So war es offenbar nicht. Wir Kinder schauten dort unten nach. Und wir konnten nichts dergleichen finden.
Dann begann er sich immer öfter zum Strand zu begeben, um nachzusehen, ob es neue Botschaften gab.
– Gab es welche?
– Wenn, dann sprach er jedenfalls nicht davon. Aber allmählich verbreitete sich das Gerücht, man hätte ihn da unten auf dem Eis neben dem Landungssteg stehen und mit dem Spazierstock in den Neuschnee schreiben sehen. Sie verstehen, das ist doch eine recht eigentümliche Art, Poesie zu verfassen. Wenn es nun Poesie war.
– Keiner weiß es?
– Nein. Das weiß keiner. Sein Verleger, seine Kritiker, seine alten Freunde, alle hätten so gern eine neue Gedichtsammlung gesehen. Jahrelang wurde gemunkelt, es gäbe sie, das Manuskript wäre irgendwo hier im Haus versteckt. Aber das glaube ich nicht.
Die Wahrheit ist, dass ich nun schon seit zehn Stunden nach dem Manuskript gesucht habe. Und ich habe nichts gefunden. Überhaupt nichts! Nicht den kleinsten Zettel. Hier gibt es kein Manuskript, Herr Friberg! Wenn es das ist, wonach Sie suchen, brauchen Sie sich keine Mühe zu machen!
In dem Moment schlug die prachtvolle Uhr, nach übertrieben komplizierten Vorbereitungen, Klopfen, Summen und Nebengeräuschen, neun Schläge. Der exzentrische Herr erhob sich und ging hinaus. Das war alles.
Janne wusste nicht genau, was er mit der plötzlichen Stille anfangen sollte. Er flüchtete in das Buch und fand sich an derselben Stelle wieder, an der er zuvor gewesen war:
Unter dem grünen Gewölbe der Bäume
so bald, so unwiderstehlich verronnen
an diesem hohen Tag, dem letzten Tag,
ihres Kleides weißes Licht …
Wie schön! So konnte das Leben also sein. Oder gewesen sein.
Das
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