Der Mann aus dem Dschungel
die Spritze in ihrer Hand hätte er sofort gewusst, dass Betäubungsmittel ihre Ohnmacht verursacht hatten. Viel zu oft hatte er gespürt, wie die Nadel in sein Fleisch drang und die Flüssigkeit langsam seine Sinne vernebelte. Er kannte die Symptome. Sie war bewusstlos.
Er kniete sich neben sie und strich ihr kurzes Haar zur Seite, um sie besser ansehen zu können. Eigentlich mochte er Frauen mit langem Haar lieber, Frauen mit kräftigem Körper und üppigen Kurven. Frauen, die ungefähr so groß waren wie er.
Er hatte gehört, wie sie sie beim Namen genannt hatten. Dr.
Elizabeth Holden war ihm viel zu klein, viel zu mager, und ihr dichtes dunkelblondes Haar reichte ihr gerade bis an die Ohren.
Aber ihr Mund war wunderschön. Schon bei ihrer ersten Begegnung im Areal, als er festgeschnallt auf der verdammten Liege gelegen hatte, war ihm ihr Mund besonders aufgefallen.
Die großzügigen Lippen, die ein Gefühl der Verwundbarkeit vermittelten, erregten in ihm die blühendsten Fantasien. Was sollte er auch sonst tun, wenn er stundenlang angeschnallt auf der Liege lag? Sie hatte seinen Körper genauestens untersucht, betastet und durchgeknetet, aber glücklicherweise besaß er genügend Selbstkontrolle, um seine physische Reaktion auf ihren erotischen Mund vor ihr zu verbergen. Der Schreck wäre groß gewesen.
Im Grunde hätte er sie in der Festung zurücklassen sollen, doch er wusste genau, was dann geschehen würde. Alf war ein übler Zeitgenosse, und er empfand echte Freude daran, andere Menschen zu quälen. Mick war harmlos, aber gegen Alf konnte er nichts ausrichten. Es gehörte nicht viel dazu, die Wahrheit über Libby und seine Flucht herauszubekommen.
Auf keinen Fall konnte er sie dem Zorn seiner beiden Bewacher überlassen. Das war er ihr schuldig.
Er zog ihren erschlafften Körper zu sich heran und bettete ihren Kopf in seinen Schoß. Eine Welle zärtlicher Gefühle durchfuhr ihn. Wie abwesend streichelte er ihr Haar. Dann versuchte er zu sprechen. "Du bist sehr mutig, nicht wahr, meine Liebe?" krächzte er mit seiner ruinierten Stimme. Erst vor kurzer Zeit war es ihm gelungen, wieder ein paar Worte zu sprechen. Jede Nacht hatte er geübt, immer dann, wenn die Wirkung der Drogen nachließ und die morgendliche Jagd auf ihn noch weit entfernt war.
Die Sterne am nächtlichen Himmel leuchteten durch die Baumkronen der Lichtung hindurch. Er legte den Kopf in den Nacken und sog die frische, feuchte Luft in tiefen Atemzügen in sich hinein. Eine Welle purer Lust durchrann seinen gequälten Körper. Er wusste, dass er die Wildnis des tropischen Regenwaldes immer wieder brauchen würde, um seelisch nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Aber erst jetzt konnte er ermessen, was ihm die Freiheit wirklich bedeutete. Nur noch ein paar Wochen länger eingesperrt in seinem elenden Gefängnis, und sein vernebeltes Gehirn wäre für immer dunkel geblieben.
Morgen früh sollten die letzten Reste der Drogensubstanz aus seinem Blut verschwunden sein. Außerdem hoffte er, dass er sich dann auch von der letzten Blutentnahme erholt hätte.
Die Aussieht auf Freiheit hatte ihm enorme Kräfte verliehen, aber diese Kräfte schienen jetzt zu schwinden. Sie war zwar schmal und wog nur hundert Pfund, doch nach der langen Zeit in Gefangenschaft hatte der Marsch durch den Dschungel seine letzten Kraftreserven angegriffen.
Er streckte sich auf dem Urwaldboden bequem aus und umfing sie mit seinem Körper, um sie vor den Gefahren der Nacht zu schützen. Sie war nicht für den Dschungel
geschaffen. Sie gehörte in die Welt der Städte, und dorthin wollte er sie zurückbringen.
Inzwischen würde er sie mit seinen starken Armen
beschützen, den Duft ihrer Haut einatmen und sich von ihrem kurzen, lockigen Haar kitzeln lassen. Ihr zarter Körperbau beeindruckte ihn, aber sie hatte besser durchgehalten, als er vermutet hatte. Sie war stärker, als er dachte.
Ihr entfuhr ein leises Gähnen, als sie sich unruhig in seinen Armen bewegte. Sanft wiegte er sie wieder in den Schlaf.
"Schlaf nur, meine Liebe", flüsterte er mit rauer Stimme. "Der Morgen kommt viel zu schnell. Und dann kannst du mich wieder hassen. Das gefällt dir, nicht wahr? Dann weißt du wenigstens, was du für mich empfindest."
Seine Stimme klang mit jedem Wort robuster. Niemand konnte sagen, ob sie wieder genauso kräftig werden würde, wie zuvor - wie vor jenem schrecklichen Augenblick, als ihm die Bastarde eine Schlinge um den Hals gelegt und zugezogen hatten.
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