Der Mann aus Israel (German Edition)
war mein kleiner Bruder.“
Endlich fange ich an zu verstehen. Es war nicht Faulheit,
weshalb er nicht hierher fahren wollte. Es war der Schmerz um den Bruder, der
ihm jede Golanfahrt zur Höllenqual werden lässt. Mein Gott, was bin ich für ein
Idiot, denke ich, ich hacke ständig auf diesem Mann herum, während ihn die
Trauer krümmt und fast ersticken lässt. Ich schäme mich. Immer beziehe ich
alles um mich herum nur auf mich selbst. Ich wollte, dass Raffael spurt und
sich mir fügt. Ein eigenes Individuum zu sein, habe ich ihm nicht zugestanden,
ich habe noch nicht einmal darüber nachgedacht. Das einzige, was mich
interessierte, waren meine Gefühle. Seine wahrzunehmen, habe ich mir nicht die
Mühe gemacht. Ich rücke ein wenig näher zu ihm und spüre das Fleisch seiner
Arme, wir tragen beide kurzärmelige Hemden. Die Nähe zu diesem Mann macht mich
ganz weich. Der Zorn auf ihn ist wie weggeblasen, ein Rieseln läuft mir wohlig
durch den Körper, und gleichzeitig habe ich das Gefühl, als seien alle Muskeln
in höchster Anspannung.
„Er war noch nicht einmal 18 Jahre alt. Weißt Du. Er machte
gerade seinen Militärdienst, als der Krieg begann. Er hatte es geschafft, die
mörderische Selektion zur Pilotenausbildung zu schaffen und war mitten im
Training. Während der Lehrjahre fliegen die Jungs noch keine Einsätze, deshalb
waren unsere Eltern und ich auch nicht beunruhigt. Wir waren nur alle sehr
stolz auf ihn. Pilot in unserer Armee zu sein, ist etwas ganz besonderes. Ich
wäre auch gerne Flieger geworden, aber bei mir reichte es nur bis zum
Fallschirmspringer. Er hat mich oft deswegen aufgezogen. Du bist groß und
stark, sagte er dann, hast die guten Noten und gefällst den Weibern, aber ich
werde Pilot. Wir waren einander sehr nah, weißt Du, obwohl wir ganz
unterschiedliche Typen waren. Er war sehr introvertiert und sog Wissen auf wie
ein Schwamm, während ich nur gefräßig auf Leben war.“
Ich sehe zu ihm hinauf. Er hat ganz leere Augen, aus seinem
Gesicht ist die Farbe entwichen. Grau sieht er aus, wie leblos. Er tot und ich
erregt, denke ich, das ist pervers. Was gehen mir nur für Gedanken durch den
Kopf. Dieser Mann macht mich ganz konfus, ich kenne mich selbst nicht mehr.
„Am Abend bevor der Krieg losging, rief er unsere Eltern an
und erzählte ihnen, er dürfe doch keine Einsätze fliegen, weil er nicht
volljährig sei. Er hatte sie angelogen, um sie nicht zu beunruhigen. In Wahrheit
war sein Start bereits festgelegt. Er hatte sich freiwillig gemeldet und wohl
auch ein wenig an seinen Papieren manipuliert. Genau haben wir das danach nie
herausbekommen. Als ich am nächsten Tag von der abgeschossenen Maschine hörte,
bedauerte ich es natürlich. Jeder tote israelische Soldat ist für uns eine
kleine nationale Katastrophe. Aber doch etwas ganz anderes ist es, den eigenen,
einzigen Bruder zu verlieren.“ Seine Stimme ist ganz heiser. „Meine Einheit
hatte den Befehl bekommen, die Linie der Syrer zurückzudrängen, damit wir an
die abgeschossene Maschine herankämen, um die Leiche des Piloten zu bergen. Weißt
Du“, erklärt er mir. „unsere Tradition verlangt, die Toten möglichst rasch zu
beerdigen. Und möglichst unversehrt. Eine Leiche einfach irgendwo liegen zu
lassen, sie nicht der Erde übergeben zu können, widerspricht unseren
Vorstellungen, es ist ein schier unerträglicher Gedanke. Deshalb hat die
Bergung von Toten bei uns immer allerhöchste Priorität. Wir bereiteten also den
Angriff auf die Syrer vor.“
Plötzlich sehe ich die Bilder vor mir, wie fromme Juden,
zwischen Feuerwehrkommandos und Rettungsarbeiten, mit Pinzetten und
Schäufelchen ausgerüstet, konzentriert und ernst Leichenfetzen zusammenkratzen,
wenn es wieder irgendwo im Land ein Attentat mit Ermordeten gegeben hat. Auf
Leitern, Gerüsten und Feuerwehrtürmen stehen diese Männer und kratzen
Leichenhaut von Fensterscheiben, knien auf dem Asphalt und kriechen unter
Autos. Ich konnte diese Bilder nie einordnen, habe nie verstanden, was diese
Männer tun. Jetzt werden sie mir klar. Diese Männer sorgen dafür, dass die
zerfetzten, zerborstenen Leichen der toten Juden wieder zusammengefügt werden.
Sie sind die Wächter der religiösen Tradition und haben die Aufgabe, das
Menschenmögliche zu tun, um einem toten Körper die Würde der Ganzheit
wiederzugeben und seine Hülle, wenn auch in tausend einzelnen Hautlappen, für
die Ewigkeit zu bewahren, damit der Tote die Chance zur Auferstehung hat, wenn
am Tage des
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