Der Mann aus Israel (German Edition)
Jüngsten Gerichtes die letzten Trompeten erschallen werden. Sie
befolgen eines der sechshundertdreizehn Gebote, das besagt, dass ein Leichnam
zur Gänze und unversehrt bestattet werden muss, denn wird nur auch ein einziges
Stückchen Gewebe vergessen, ist es, als hätte kein Begräbnis stattgefunden.
„Als wir hier oben einrückten, übergab der Kommandant mir
die Leitung der Operation, sagte aber gleichzeitig, dass ich den Einsatz
selbstverständlich nicht führen müsste, wenn es mir zu schwer fiele. Ich
verstand überhaupt nicht, was er meinte. Weshalb sollte mir dieser Kampf
schwerer fallen als irgendein anderer. Ich hatte ja keine Ahnung davon, wer der
Tote war. Und der Kommandant ahnte nicht, dass ich noch nicht wusste, dass der
Pilot da drüben mit den abgerissenen Beinen mein kleiner Bruder Miki war,
abgeschossen bei seinem ersten Einsatzflug.“
Mir ist plötzlich so kalt. Hör` auf, hör` endlich auf, denke
ich, mir zerreißt es das Herz. Gleichzeitig rechne ich fieberhaft nach. Welchen
Krieg meint er denn genau? Ich habe mich nie für Frontverschiebungen
interessiert, deshalb weiß ich nicht, wie ich die verschiedenen Kampflinien
hier oben zeitlich einteilen kann.
„Aber das ist doch schon so lange her.“ versuche ich es.
„Am 13. Oktober 1973 war es.“ gibt er mir zur Antwort. Es
war also im Yom-Kippur-Krieg, denke ich. Dann ist Raffaels Bruder fast auf den
Tag zweiundzwanzig Jahre tot. Sein Schmerz darüber hält an. Kann es möglich
sein, so lange Zeit zu trauern? Um einen Bruder? Mir kommt das merkwürdig vor.
Kann es in einem Leben einen Menschen geben, dessen Tod man nicht überwinden
kann? Auch nach Jahrzehnten nicht, und selbst wenn es nur der Bruder war. Es
fällt mir schwer, das zu verstehen. Aber auch damit habe ich keine Erfahrung.
Kein Verlust hat mich je getroffen oder lange bedrückt. Alle Menschen, die ich
beweint habe, stammten aus Romanen oder Filmen. Mein Leben ist keine Tragödie.
„Es war heiß in dem Herbst damals, fast so wie heute. Keine
dreihundert Meter von mir entfernt, lag mein toter Bruder in der Hitze. Und ich
konnte nicht zu ihm. Erst nach drei Tagen schafften wir es, die Syrer
abzudrängen. Ich sammelte zusammen, was von Miki übriggeblieben war und sprach
den Kaddisch, das Totengebet. Einer meiner Leute fuhr mich und den Plastiksack,
der das enthielt, was einst mein Bruder gewesen war, nach Jerusalem zu meinen
Eltern. Nach allem, was sie in ihrem Leben an Verlust und Vernichtung schon
erfahren hatten, musste ich ihnen den allergrößten Schmerz zufügen und ihnen
den Tod ihres Sohnes mitteilen.“ Die Erinnerung daran lässt seine Stimme
zittern. „Mir war damals so, als hätte ich ihn selbst umgebracht, als trüge ich
die Verantwortung dafür.“
Er bricht ab. Und fügt dann noch hinzu „Weißt Du, Elisabeth,
er war so begabt, so viel begabter als ich. Ich habe ihn bewundert“ seine
Stimme hat einen metallenen Klang. „und sehr geliebt.“
„Wie haben es denn Deine Eltern verkraftet?“ will ich
wissen.
„Ganz gut“, antwortet er. „auf jeden Fall viel besser als
ich.“
Seine Stimme klingt jetzt sehr distanziert. Anscheinend
verübelt er seinen Eltern die Fähigkeit, den Tod des Sohnes akzeptiert zu
haben. Sie hatten vermutlich einander, und Du warst allein, denke ich.
„Und die Syrer?“ frage ich. „Gibst Du ihnen die Schuld? Du
hasst sie doch nicht deswegen, oder?“
„Ich traue ihnen keinen Millimeter.“ Das ist genau die
Antwort, die ich befürchtete. „Keinem Araber traue ich.“
„Aber, Raffael, Du kannst doch nicht einfach pauschal alle
Araber dafür verantwortlich machen, was Dir geschehen ist?“ rufe ich
verzweifelt. „Das darfst du nicht, das ist ungerecht und führt nirgendwohin.“
Mir schwirren die Gedanken, die Fragen, die Argumente durch den Kopf.
„Raffael“, unterbricht da der gute Herr Albertz unser
Gespräch, der zu meinem Leidwesen jeden Tag aufs Neue in kurzen Hosen auftritt,
die alten Beine mit den Krampfadern und der faltigen Haut immer öffentlich für
jedermann sichtbar. „Wissen Sie“, hatte ich ihm am Anfang der Reise
freundschaftlich angedroht, „die Araber werden über Sie lachen und glauben, Sie
hätten nur Unterhosen an.“ Es hatte nichts genutzt, seine Bequemlichkeit siegte
über die Scham. Nackte, altersverbogene Zehen in Sandalen, kurze Hosen,
geblümtes Hemd, Fotoapparat, das ist seine Standardausrüstung. Mir graust es
jedes Mal, wenn ich ihn anschauen muss. Dabei ist er ein ganz
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