Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
dazugehört. Unser Vorschlag, daß ihr die ganze Balkanhalbinsel von Rumänien bis Kreta als russische Einflußsphäre anerkennt, fand nicht eure Zustimmung. Zweifellos hattet ihr das Gefühl, das sei zuviel. So hatte ich nun die Aufgabe, eine geringere Forderung zu formulieren, die uns freie Seewege sichert, ohne Großbritannien auf eine rückhaltlos prorussische Balkanpolitik festzulegen.«
»Ja.« Waiden stellte fest: Sein Verstand ist so scharf wie das Messer eines Chirurgen. Vor wenigen Minuten erteilte ich ihm einen väterlichen Rat, und jetzt ist er mir plötzlich ebenbürtig. So muß es sein, wenn ein Sohn zu einem Mann wird.
»Es tut mir leid, daß es so lange gedauert hat«, erklärte Alex. »Ich mußte verschlüsselte Telegramme über die russische Gesandtschaft nach St. Petersburg schicken, und eine Diskussion über diese Entfernung funktioniert nun einmal nicht so problemlos, wie ich es mir wünschte.«
»Ich verstehe«, sagte Waiden und dachte bei sich: Nun laß schon die Katze aus dem Sack!
»Es gibt da ein Gebiet von etwa zehntausend Quadratmeilen zwischen Konstantinopel und Adrianopel. Es nimmt etwa die Hälfte Thraziens ein und gehört gegenwärtig zur Türkei. Seine Küste beginnt am Schwarzen Meer und erstreckt sich entlang des Bosporus, des Marmarameers und der Dardanellen bis hin zur Ägäis. Mit anderen Worten: Sie beherrscht die Passage zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer.« Er hielt inne. »Gebt uns das, und wir sind auf eurer Seite.«
Waiden verbarg mit Mühe seine Erregung. Jetzt hatten sie eine Verhandlungsbasis. Er sagte: »Es bleibt nur das Problem, daß wir nicht verschenken können, was uns nicht gehört.«
»Überlege noch einmal die Möglichkeiten im Falle eines Krieges«, erwiderte Alex. »Erstens: Falls die Türkei auf unserer Seite ist, haben wir natürlich ohnehin freie Durchfahrt. Aber das ist nicht wahrscheinlich. Zweitens: Falls die Türkei neutral bleibt, würden wir von Großbritannien erwarten, daß es auf unserem Durchfahrtsrecht besteht, weil die Türkei ihre Neutralität nur auf diese Weise glaubwürdig machen kann. Andernfalls würdet ihr unsere Invasion in Thrazien unterstützen. Drittens: Falls die Türkei sich auf die deutsche Seite stellt – und das ist die wahrscheinlichste der drei Möglichkeiten –, würde Großbritannien Thrazien als unseren Besitz anerkennen, sobald wir es erobert hätten.«
Waiden bemerkte zweifelnd: »Ich frage mich nur, wie die Thrazier darüber denken werden.«
»Sie würden lieber zu Rußland als zur Türkei gehören.«
»Ich nehme eher an, sie möchten unabhängig sein.«
Alex lächelte jungenhaft. »Weder du noch ich, noch unsere Regierungen sind im geringsten an den etwaigen Wünschen der Einwohner von Thrazien interessiert.«
»Da hast du recht«, sagte Waiden.
Was ihn immer wieder aus der Fassung brachte, war jene Mischung von jungenhaftem Charme und erwachsener Intelligenz bei Alex. Glaubte er, die Diskussion fest unter seiner Kontrolle zu haben, verblüffte ihn Alex mit einer witzigen Bemerkung, die bewies, daß er derjenige war, der das Gespräch beherrschte.
Sie stiegen den Hügelpfad hinan, der zum hinteren Teil von Waiden Hall führte. Staub wirbelte unter Waidens schweren braunen Schuhen auf. Der Boden war trocken; es hatte in den letzten drei Monaten kaum geregnet. Waiden fand Alex’ Gegenvorschlag sehr bedenkenswert. Was würde Churchill dazu sagen? Warum sollte man den Russen nicht einen Teil Thraziens zugestehen? Wer scherte sich schon um Thrazien?
Sie kamen durch den Gemüsegarten. Ein Gärtnerlehrling begoß die Salatbeete. Er legte die Hand zum Gruß an die Mütze. Waiden suchte nach seinem Namen, aber Alex kam ihm zuvor. »Ein schöner Abend, Stanley«, sagte er.
»Ein bißchen Regen könnte nichts schaden, Eure Hoheit.«
»Aber nur ein bißchen, nicht wahr?«
»Genau, Eure Hoheit.«
Alex versteht es, dachte Waiden.
Sie traten ins Haus. Waiden klingelte nach einem Diener. »Ich werde Churchill ein Telegramm schicken und eine Verabredung für morgen früh treffen. Ich muß jetzt sofort nach London fahren.«
»Gut«, sagte Alex. »Die Zeit wird knapp.«
Der Lakai, der Charlotte die Tür öffnete, starrte sie freudig überrascht an.
»Oh! Gott sei Dank sind Sie wieder zu Hause, Lady Charlotte!« sagte er.
Charlotte gab ihm ihren Mantel. »Ich wüßte nicht, warum Sie Gott dafür danken sollten, William.«
»Lady Waiden hat sich große Sorgen um Sie gemacht«, sagte er. »Sie
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