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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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beauftragte mich, Sie sofort zu ihr zu schicken.«
    »Ich gehe nur eben auf mein Zimmer und mache mich zurecht«, sagte Charlotte.
    »Lady Waiden hat ›sofort‹ gesagt.«
    »Und ich sage, daß ich zuerst auf mein Zimmer gehe.«
    Charlotte ging die Treppe hinauf.
    Sie wusch sich das Gesicht und löste ihr Haar. Von dem Faustschlag hatte sie noch einen dumpfen Schmerz im Magen, und ihre Hände waren etwas abgeschürft, wenn auch nicht sehr schlimm. Die Knie waren bestimmt wund, aber die sah ohnehin nie jemand. Sie trat hinter den Wandschirm und zog ihr Kleid aus. Es war unbeschädigt. Man sieht mir nicht an, daß ich in eine Schlägerei verwickelt war, fand sie. Die Schlafzimmertür öffnete sich.
    »Charlotte!« Es war Mamas Stimme.
    Charlotte schlüpfte in einen Morgenrock und murmelte:
    »Ach, du meine Güte, jetzt wird sie hysterisch.« Sie kam hinter dem Wandschirm hervor.
    »Wir haben uns zu Tode geängstigt!« sagte Mama.
    Marya kam hinter ihr ins Zimmer, mit selbstgerechter Miene und stählernem Blick.
    Charlotte sagte: »Wie ihr seht, bin ich gesund und munter. Ihr braucht euch also nicht mehr zu ängstigen.«
    Mama wurde rot. »Du unverschämtes Kind!« schrie sie sie an. Dann kam sie auf Charlotte zu und schlug ihr ins Gesicht.
    Charlotte taumelte zurück und setzte sich aufs Bett. Sie war wie betäubt, aber nicht von dem Schlag, sondern von dem Gedanken daran. Mama hatte sie noch nie zuvor geschlagen. Es schmerzte mehr als alles, was sie bei der Demonstration eingesteckt hatte. Sie erhaschte Maryas Blick und sah Zufriedenheit in ihrem Gesicht.
    Charlotte faßte sich und sagte: »Das werde ich dir nie verzeihen.«
    »Du redest von Verzeihen?« Mama war so wütend, daß sie russisch sprach. »Und wie soll ich dir jemals verzeihen, daß du mit dem Pöbel vor dem Buckingham Palast mitgelaufen bist?«
    Charlotte erstarrte. »Woher weißt du das?«
    »Marya hat dich auf der Mall mit diesen … mit diesen Frauenrechtlerinnen marschieren sehen. Ich fühle mich so beschämt. Gott weiß, wer dich sonst noch gesehen hat. Falls der König das je erfährt, sind wir vom Hof verbannt.«
    »Ich verstehe.« Charlottes Wange brannte immer noch von der Ohrfeige. Boshaft sagte sie: »Ihr wart also gar nicht um meine Sicherheit besorgt, sondern nur um den Ruf der Familie.«
    Mama wirkte betroffen. Marya mischte sich ein: »Wir waren um beides besorgt.«
    »Halten Sie lieber den Mund, Marya«, sagte Charlotte.
    »Sie haben mit Ihren Petzereien schon genug Unheil angerichtet.«
    »Marya hat vollkommen richtig gehandelt!« sagte Mama. »Wie hätte sie mir das verschweigen können?«
    Charlotte sagte: »Findest du denn nicht, daß die Frauen das Wahlrecht haben sollten?«
    »Ganz gewiß nicht – und das sollte auch deine Meinung sein.«
    »Ist es aber nicht«, sagte Charlotte.
    »Was weißt denn du? Du bist noch ein Kind.«
    »Darauf läuft letzten Endes immer alles hinaus, nicht wahr? Ich bin ein Kind, und ich weiß nichts. Wer ist für meine Unwissenheit verantwortlich? Marya ist seit fünfzehn Jahren für meine Erziehung zuständig. Und was das Kindsein betrifft, so weißt du genau, daß ich kein Kind mehr bin. Du wärst bestimmt sehr glücklich, mich zu Weihnachten verheiratet zu sehen. Und manche Mädchen sind schon im Alter von dreizehn Jahren Mütter -verheiratet oder nicht.«
    Mama war entsetzt. »Wer erzählt dir solche Dinge?«
    »Gewiß nicht Marya. Sie hat mir noch nie etwas Wichtiges erzählt. Und du auch nicht.«
    Mamas Stimme wurde fast flehend. »Du brauchst solche Dinge nicht zu wissen – du bist eine Dame.«
    »Siehst du, was ich meine? Du möchtest, daß ich ahnungslos bleibe. Und ich bin da anderer Meinung.«
    Mama klagte: »Ich will doch nur, daß du glücklich bist.«
    »Nein, das willst du nicht«, erwiderte Charlotte trotzig.
    »Du willst nur, daß ich so werde wie du.«
    »Nein, nein, nein!« rief Mama aus. »Ich will nicht, daß du so wirst wie ich! Das will ich nicht!« Sie brach in Tränen aus und rannte aus dem Zimmer.
    Charlotte blickte ihr verwundert und beschämt nach.
    Marya sagte: »Da siehst du, was du angerichtet hast.«
    Charlotte betrachtete sie von oben bis unten: graues Kleid, graues Haar, häßliches Gesicht, selbstgefälliger Ausdruck. »Lassen Sie mich in Ruhe, Marya.«
    »Du machst dir keinen Begriff von den Sorgen und dem Herzeleid, das du heute nachmittag angerichtet hast.«
    Charlotte war versucht, ihr zu erwidern: Wenn du den Mund gehalten hättest, hätte es kein Herzeleid

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