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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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lächelte. »Halten Sie mich für verrückt?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Sie sind der vernünftigste Mensch, der mir je begegnet ist.«
    »Dann setzen Sie sich, und ich werde es Ihnen erklären.«
    Sie ließ sich von ihm zu einer Bank führen.
    »Der Zar mißtraut bereits den Engländern, weil sie politische Flüchtlinge wie mich nach England kommen lassen. Falls einer von uns seinen Lieblingsneffen entführen würde, käme es zu einem Eklat – und dann wäre sich keines der beiden Länder mehr der Unterstützung des ändern im Kriegsfalle sicher. Und wenn das russische Volk erführe, was Orlow ihm anzutun versucht hat, würde es zu einer solchen Empörung kommen, daß der Zar nicht mehr in der Lage wäre, sein Volk in den Krieg zu führen. Verstehen Sie das?«
    Charlotte beobachtete sein Gesicht, während er sprach. Er war ruhig, vernünftig, nur ein bißchen angespannt. Kein fanatisches Aufflammen in seinem Blick. Alles, was er sagte, ergab einen Sinn, aber es war wie die Logik eines Märchens – eins führte folgerichtig zum anderen, aber es schien eine Geschichte aus einer anderen Welt zu sein – nicht aus der Welt, in der sie lebte.
    »Ich verstehe schon«, sagte sie, »aber Sie können Alex doch nicht entführen. Er ist so ein netter Mensch.«
    »Dieser nette Mensch wird eine Million anderer netter Menschen in den Tod führen, wenn man ihn gewähren läßt. Hier geht es um die Wirklichkeit, Charlotte, und nicht um Schlachten mit Göttern und Pferden, wie sie auf diesen Gemälden dargestellt sind. Waiden und Orlow verhandeln über einen Krieg – in dem Männer sich gegenseitig mit Schwertern die Bäuche aufschlitzen, jungen Burschen von Kanonenkugeln die Beine weggerissen werden, Menschen auf schlammigen Feldern verbluten und vor Schmerzen schreien, ohne daß ihnen jemand hilft. Das ist es, was Waiden und Orlow zu planen versuchen. Die Hälfte allen Elends auf der Welt wird von jungen Männern wie Orlow verschuldet, die sich einbilden, sie hätten das Recht, Kriege zwischen den Völkern zu organisieren.«
    Plötzlich kam ihr ein erschreckender Gedanke. »Sie haben schon einmal versucht, ihn zu entführen.«
    Er nickte.
    »Im Park. Sie waren im Wagen. Es ist leider mißglückt.«
    »Oh, mein Gott!« Sie fühlte sich elend und niedergeschlagen.
    Er nahm ihre Hand. »Sie wissen doch, daß ich recht habe?«
    Und es schien ihr wirklich, daß er recht hatte. Seine Welt war die wirkliche Welt, und sie, Charlotte, war es, die in einem Märchen lebte. Im Märchenland werden die Debütantinnen im weißen Kleid dem König und der Königin vorgestellt, und der Fürst zieht in den Krieg, und der Graf ist gütig zu seiner Dienerschaft, die ihn verehrt, und die Duchess ist eine würdige alte Dame, und etwas wie den Geschlechtsverkehr gibt es überhaupt nicht. Aber in der wirklichen Welt wurde Annies Baby tot geboren, weil Mama Annie ohne Zeugnis wegschickte, und eine dreizehnjährige Mutter wurde zum Tode verurteilt, weil sie ihr Baby erfrieren ließ. Da mußten viele Leute auf der Straße schlafen, weil sie kein Dach über dem Kopf hatten, und es gab Zöglingsheime und eine Duchess, die eine bösartige alte Vettel war, und einen grinsenden Mann im Tweedanzug, der einem jungen Mädchen vor dem Buckingham Palast in die Magengrube schlug.
    »Ich weiß, daß Sie recht haben«, sagte sie zu Felix.
    »Das ist sehr wichtig«, erwiderte er. »Sie haben nämlich den Schlüssel zu allem in der Hand.«
    »Ich? O nein!«
    »Ich brauche Ihre Hilfe.«
    »Nein, bitte sagen Sie das nicht!«
    »Sie müssen verstehen … ich kann Orlow nicht finden.«
    Das ist unfair von ihm, dachte sie. Sie fühlte sich in die Falle gelockt. Sie wollte Felix helfen, sah ein, wie wichtig es war, aber Alex war ihr Vetter, und er war als Gast in ihrem Haus gewesen – wie konnte sie ihn verraten?
    »Werden Sie mir helfen?« fragte Felix.
    »Ich weiß nicht, wo Alex ist«, antwortete sie ausweichend.
    »Aber Sie könnten es herausfinden.«
    »Ich weiß.«
    »Werden Sie es tun?«
    Sie seufzte. »Ich weiß nicht.«
    »Charlotte, Sie müssen es tun.«
    »Ich muß überhaupt nichts!« entgegnete sie aufgebracht. »Jeder sagt mir, was ich tun muß – und ich hatte geglaubt, Sie hätten etwas mehr Achtung vor mir.«
    Er blickte beschämt zu Boden. »Ich wünschte, ich brauchte Sie nicht darum zu bitten.«
    Sie drückte seine Hand. »Ich werde es mir überlegen.«
    Er öffnete den Mund, wollte etwas einwenden, aber sie legte ihm die Finger auf die Lippen, hieß

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