Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
ihn schweigen.
»Sie werden sich damit zufriedengeben müssen«, sagte sie
Um sieben Uhr dreißig fuhr Waiden im Lanchester fort. Er trug einen Abendanzug und einen seidenen Zylinder. Er benutzte jetzt nur noch das Auto, weil es im Notfall rascher und wendiger als eine Kutsche war. Pritchard saß am Steuer, trug einen Revolver im Halfter unter der Jacke. Das zivilisierte Leben schien plötzlich ein Ende genommen zu haben. Sie fuhren zum hinteren Eingang des Hauses Nummer zehn, Downing Street. Das Kabinett war am Nachmittag einberufen worden, um über die zwischen Waiden und Alex ausgearbeitete Abmachung zu diskutieren. Jetzt sollte Waiden erfahren, ob sein Projekt Zustimmung gefunden hatte oder nicht.
Er wurde in das kleine Speisezimmer geführt. Churchill und Asquith, der Premierminister, waren bereits da. Sie standen an der Anrichte und tranken Sherry. Waiden schüttelte Asquith die Hand. »Wie geht es Ihnen, Herr Premierminister?«
»Nett, daß Sie gekommen sind, Lord Waiden.«
Asquith hatte silbergraues Haar und ein glattrasiertes Gesicht. Die Fältchen um seine Augen zeugten von Humor, aber sein Mund wirkte schmal, dünnlippig und unnachgiebig, und er hatte ein breites, kantiges Kinn. Waiden entdeckte in seiner Stimme eine Spur des Akzentes von Yorkshire, der die City of London School und das Balliol College in Oxford überlebt hatte. Asquith hatte einen ungewöhnlich großen Kopf, der angeblich ein Gehirn von maschinenhafter Präzision enthielt, aber Waiden fand, daß Premierministern wohl immer mehr Gehirn zugeschrieben wurde, als sie in Wirklichkeit besaßen.
Asquith sagte: »Leider hat das Kabinett Ihrem Vorschlag nicht zugestimmt.«
Waiden war überrascht. Um seine Enttäuschung zu verbergen, nahm er eine forsche Haltung an. »Und warum nicht?«
»Die Opposition kam hauptsächlich von Lloyd George.«
Waiden blickte Churchill mit erhobenen Brauen an.
Churchill nickte. »Sie haben wahrscheinlich wie jeder andere geglaubt, Lloyd George und ich seien stets der gleichen Meinung. Jetzt wissen Sie es besser.«
»Wie lauteten seine Einwände?«
»Eine Prinzipienfrage«, antwortete Churchill. »Er sagt, wir reichten den Balkan herum wie eine Schachtel Pralinees: Bedienen Sie sich, nehmen Sie, was Ihnen beliebt, Thrazien, Bosnien, Bulgarien, Serbien. Kleine Länder hätten schließlich auch ihre Rechte, ist sein Standpunkt. Das kommt davon, wenn man einen Waliser im Kabinett hat. Einen Waliser und noch dazu einen Rechtsanwalt. Ich weiß nicht, was von beiden schlimmer ist.«
Churchills lockerer Umgangston irritierte Waiden. Ist er an diesem Projekt nicht genauso interessiert wie ich? fragte er sich. Warum zeigt er keine Spur von Enttäuschung?
Sie setzten sich zum Abendessen. Nur ein Butler servierte. Asquith aß wenig. Churchill trank für Waidens Geschmack zu viel. Waiden war in schlechter Stimmung, verfluchte Lloyd George im Geiste mit jedem Bissen.
Als der erste Gang beendet war, erklärte Asquith: »Sie wissen, daß wir auf diesen Vertrag angewiesen sind. Früher oder später wird es zwischen Frankreich und Deutschland Krieg geben, und wenn die Russen sich heraushalten, wird Deutschland Europa erobern. Das können wir nicht zulassen.«
Waiden fragte: »Was muß getan werden, um Lloyd George umzustimmen?«
Asquith lächelte dünn. »Hätte ich jedesmal, wenn man mir diese Frage stellte, ein Pfund bekommen, wäre ich schon jetzt ein reicher Mann.«
Der Butler servierte jedem von ihnen ein Rebhuhn und schenkte Bordeauxwein ein. Churchill sagte: »Wir müssen einen neuen Vorschlag ausarbeiten, der die Einwände Lloyd Georges berücksichtigt.«
Churchills gelassener Ton brachte Waiden in Rage. »Sie wissen genau, daß das nicht so einfach ist«, sagte er scharf.
»In der Tat ist es das nicht«, erwiderte Asquith sehr ruhig. »Aber wir müssen es versuchen. Wir könnten uns darauf einigen, daß Thrazien ein unabhängiges Land unter russischem Schutz wird, oder etwas Ähnliches.«
»Ich habe mich einen ganzen Monat mit dem Problem herumgeschlagen«, bemerkte Waiden enttäuscht.
»Immerhin ändert der Mord an dem guten alten Franz Ferdinand die Lage erheblich«, sagte Asquith. »Da Österreich jetzt im Balkan wieder aggressiv wird, brauchen die Russen mehr denn je einen sicheren Stützpunkt dieser Gegend, den wir ihnen ja im Prinzip auch zugestehen wollen.«
Waiden setzte sich über seine Enttäuschung hinweg und begann nachzudenken. Nach einer Weile sagte er: »Wie steht es mit
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