Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
empfinden. Dort sind die Schönheiten bestimmt glanzvoller, die Intellektuellen weniger höflich, die Gespräche tiefgründiger, und die Abendluft ist weniger balsamisch und einschläfernd, dachte sie. In Wirklichkeit jedoch war sie besorgt um Stephen, um Felix und um Charlotte – und das verdarb ihr den Genuß an Abendgesellschaften.
Sie stieg die breite Treppe hinauf, Stephen zu ihrer Linken, Charlotte zu ihrer Rechten. Ihr Diamantenhalsband fand Mrs. Glenvilles Bewunderung. Sie gingen weiter. Stephen entfernte sich, um mit einem seiner Freunde aus dem Oberhaus zu plaudern. Lydia hörte die Worte »Zusatzantrag zur Gesetzesvorlage« und wandte sich ab. Sie bewegte sich durch die Menge, lächelte, tauschte Grüße aus, und beständig fragte sie sich: Was tue ich hier?
Charlotte sagte: »Mama, wohin ist eigentlich Alex verschwunden?«
»Das weiß ich nicht, mein Kind«, antwortete sie zerstreut. »Frage deinen Vater. Guten Abend, Freddy.«
Freddy war an Charlotte interessiert und nicht an Lydia.
»Ich habe über Ihre Bemerkung beim Lunch nachgedacht«, sagte er. »Meiner Meinung nach liegt der ganze Unterschied darin, daß wir Engländer sind.«
Lydia ließ die beiden allein. Zu meiner Zeit, dachte sie, waren politische Diskussionen wohl kaum ein Mittel, um einen Mann zu erobern; aber vielleicht hat sich das inzwischen geändert. Ich habe den Eindruck, daß Freddy für alles, worüber Charlotte reden möchte, Interesse zeigt. Vielleicht wird er um ihre Hand anhalten. Welche Erleichterung wäre das für mich!
Im ersten der Empfangssäle, in dem ein Streichquartett spielte, ohne daß ihm jemand zuhörte, traf sie ihre Schwägerin Clarissa. Sie sprachen über ihre Töchter, und es war Lydia ein Trost, zu hören, daß Clarissa sich schreckliche Sorgen um Belinda machte.
»Ich habe ja nichts dagegen, daß sie diese hochmodernen Kleider trägt und ihre Beine zeigt, und meinetwegen soll sie ruhig ein paar Zigaretten rauchen, aber in letzter Zeit läßt sie es an aller Zurückhaltung mangeln«, klagte Clarissa. »Sie geht in scheußliche Lokale, in denen Negerorchester Jazzmusik spielen, und vorige Woche war sie sogar bei einem Boxkampf!«
»Hat sie denn keine Anstandsdame?«
Clarissa seufzte. »Ich hatte ihr gesagt, sie könne ohne Anstandsdame ausgehen, wenn sie in Begleitung von Mädchen ist, die wir kennen. Jetzt sehe ich ein, daß das ein Fehler war. Hat Charlotte noch immer eine Anstandsdame?«
»Im Prinzip schon«, antwortete Lydia. »Aber sie ist furchtbar ungehorsam. Einmal hat sie sich aus dem Haus geschlichen und ist zu einer Frauenrechtlerinnenversammlung gegangen.« Lydia vermied es, Clarissa die ganze schandbare Wahrheit zu erzählen. ›Eine Frauenrechtlerinnenversammlung‹ klang immerhin nicht ganz so schlimm wie ›eine Demonstration. Sie fügte hinzu: »Charlotte interessiert sich überhaupt für Dinge, die gar nicht damenhaft sind, Politik und dergleichen. Ich weiß nicht, wie sie auf solche Ideen kommt.«
»Ich habe das gleiche Problem mit Belinda«, sagte Clarissa. »Sie ist mit der besten Musik, in guter Gesellschaft, mit ernsthaften Büchern und einer strengen Gouvernante aufgewachsen … und deshalb frage ich mich natürlich, wo sie diese Vorliebe für das Vulgäre her hat. Und ich kann ihr einfach nicht klarmachen, daß ich mich nur um ihr Glück sorge und nicht um meins; das ist das schlimmste dabei.«
»Ach, ich bin so froh, Sie das sagen zu hören!« erwiderte Lydia. »Es geht mir genauso. Charlotte scheint all unsere Bemühungen, sie zu beschützen, als Heuchelei und Verlogenheit anzusehen.« Sie seufzte. »Wir müssen die Kinder möglichst schnell verheiraten, bevor sie Schaden nehmen.«
»Sehr richtig! Interessiert sich jemand für Charlotte?«
»Freddy Chalfont.«
»Ach ja, das habe ich gehört.«
»Er scheint sogar bereit zu sein, mit ihr über Politik zu reden. Aber leider habe ich den Eindruck, daß sie kein großes Interesse an ihm hat. Und wie steht es mit Belinda?«
»Da ist das Problem genau umgekehrt. Sie mag sie alle.«
»Ach, du meine Güte!« Lydia lachte und verabschiedete sich.
Clarissa hat es als Stiefmutter eigentlich noch viel schwerer als ich, dachte sie beim Weitergehen, und fühlte sich jetzt etwas besser. Ich habe allen Grund, mit meiner Lage zufrieden zu sein.
Die Duchess von Middlesex war im nächsten Saal. Die meisten Leute standen bei dieser Art von Empfängen, aber die Duchess thronte natürlich auf einem Sessel und ließ die Leute zu sich
Weitere Kostenlose Bücher