Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
die Dienerschaft nicht sah, wie erregt sie war. Charlotte überlegte: Sie werden mich also hindern, Felix zu sehen, und mich irgendwo einsperren. Hätte ich ihm doch zugesagt, daß ich ihm helfen würde, anstatt zu zögern. Dann würde er wenigstens wissen, daß ich auf seiner Seite stehe. Jedenfalls werden sie sich nicht durchsetzen. Ich werde nicht das Leben führen, das sie für mich ausgesucht haben. Ich werde Freddy nicht heiraten, keine Lady Chalfont werden und keine fetten, selbstgefälligen Kinder aufziehen. Für ewig können Sie mich nicht einsperren. Sobald ich einundzwanzig bin, werde ich für Mrs. Pankhurst arbeiten, Bücher über den Anarchismus lesen und ein Heim für unverheiratete Mütter gründen, und falls ich je Kinder haben sollte, werde ich sie nie belügen.
Sie gingen ins Haus. Papa sagte: »Kommt in den Salon.«
Pritchard folgte ihnen: »Wünschen Eure Lordschaft ein paar Sandwiches?«
»Jetzt nicht. Lassen sie uns eine Weile allein, Pritchard.«
Pritchard entfernte sich.
Papa goß sich einen Cognac mit Soda ein und nippte an seinem Glas. »Denk noch einmal gut nach, Charlotte«, sagte er. »Willst du uns nicht sagen, wer dieser Mann ist?«
Am liebsten hätte sie geantwortet: Er ist ein Anarchist, der dich daran hindern will, einen Krieg zu entfesseln! Aber sie schüttelte nur den Kopf.
»Dann mußt du einsehen«, fuhr er mit fast sanfter Stimme fort, »daß wir dir unmöglich vertrauen können.«
Einmal hättet ihr es gekonnt, dachte sie mit Bitterkeit, aber jetzt nicht mehr.
Papa sprach zu Mama. »Wir werden sie für einen Monat aufs Land schicken müssen. Das ist die einzige Möglichkeit, weiteren Ärger zu vermeiden. Und dann, nach der Regatta von Cowes, kann sie mich in Schottland auf die Jagd begleiten.« Er seufzte. »Vielleicht ist sie bis zur nächsten Saison gefügiger geworden.«
Mama sagte: »Sie wird also vorläufig in Waiden Hall bleiben.«
Charlotte registrierte: Sie reden über mich, als wäre ich gar nicht anwesend.
Papa fügte hinzu: »Ich fahre morgen früh nach Norfolk, um Alex zu sehen, und werde sie mitnehmen.«
Charlotte war verblüfft.
Alex war also in Waiden Hall!
Daran hätte ich nie gedacht!
Jetzt weiß ich es!
»Sie sollte jetzt auf ihr Zimmer gehen und ihre Koffer packen«, sagte Mama.
Charlotte stand auf und ging hinaus; sie neigte dabei ihr Gesicht, damit niemand den Triumph in ihren Augen sehen konnte.
12
E s war erst Viertel vor drei, als Felix in die Vorhalle der National Gallery trat. Charlotte würde sich wahrscheinlich wieder verspäten, wie beim letzten Mal, aber er hatte genug Zeit und ohnehin nichts Besseres zu tun.
Er war nervös und ruhelos, überdrüssig des ewigen Versteckspielens. Während der letzten beiden Nächte hatte er wieder im Freien geschlafen, einmal im Hyde Park und einmal unter den Torbögen von Charing Cross. Tagsüber hatte er sich in Hauseingängen, hinter Eisenbahndämmen und auf leeren Bauplätzen versteckt und war nur herausgekommen, um sich Nahrung zu holen. Es erinnerte ihn an seine Flucht in Sibirien, und es war ihm nicht wohl bei diesem Gedanken. Selbst jetzt war er ständig in Bewegung, ging von der Vorhalle in die glasüberdachten Säle, schaute sich flüchtig die Bilder an und kehrte wieder in die Vorhalle zurück, um nach Charlotte Ausschau zu halten. Er blickte auf die Uhr an der Wand. Um halb vier war sie immer noch nicht gekommen. Sie wurde wohl wieder einmal bei einer jener Lunchpartys aufgehalten.
Sie könnte bestimmt herausfinden, wo Orlow sich befand. Es mangelte ihr nicht an Scharfsinn, dessen war er gewiß. Selbst wenn sie es nicht direkt von ihrem Vater erfuhr, konnte sie irgendeinen Weg finden, das Geheimnis zu lüften. Ob sie es ihm dann aber sagen würde, dessen war er sich allerdings nicht sicher. Denn sie hatte auch einen starken Willen.
Er wünschte …
Er wünschte eine Menge. Er wünschte, er hätte sie nicht betrogen. Er wünschte, er könnte Orlow ohne ihre Hilfe finden. Er wünschte, die Menschen würden es endlich aufgeben, Fürsten, Grafen, Kaiser und Zaren sein zu wollen. Er wünschte, er hätte Lydia geheiratet und Charlotte als Baby gekannt. Doch vor allem wünschte er, sie möge endlich kommen. Es war bereits vier Uhr.
Die meisten Gemälde sagten ihm nichts. Sentimentale religiöse Szenen, Porträts selbstgefälliger holländischer Kaufleute in ihren leblosen vier Wänden. Bronzinos »Allegorie« gefiel ihm, aber nur, weil das Bild so viel Sinnlichkeit ausdrückte. Die
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