Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
kommen. Lydia trat zu ihr, als Lady Gay-Stephens sich gerade von ihr verabschiedete.
»Ich nehme an, Charlotte hat sich wieder ganz von ihrem Kopfweh erholt«, sagte die Duchess.
»O ja. Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, sich danach zu erkundigen.«
»Ich habe mich nicht erkundigt«, sagte die Duchess.
»Mein Neffe sah sie um vier Uhr in der National Gallery.«
Die National Gallery! Was in Gottes Namen hatte sie dort zu suchen? Sie hatte sich schon wieder davongeschlichen! Aber Lydia wollte die Duchess nicht wissen lassen, daß Charlotte etwas Unerlaubtes getan hatte. »Sie ist schon immer eine Liebhaberin der schönen Künste gewesen«, erwiderte sie.
»Sie war mit einem Mann dort«, fuhr die Duchess fort.
»Freddy Chalfont muß einen Rivalen haben.«
Das kleine Biest! Lydia verbarg ihre Wut. »Allerdings«, sagte sie mit erzwungenem Lächeln.
»Wer ist es denn?«
»Ein junger Mann aus ihrem Kreis.« Lydia geriet in Verzweiflung.
»O nein.« Die Duchess lächelte boshaft. »Er war etwa vierzig und trug eine Tweedmütze.«
»Eine Tweedmütze?« Lydia war gedemütigt, aber das machte ihr jetzt nichts mehr aus. Wer war dieser Mann? Was dachte sich Charlotte eigentlich? Ihr Ruf …
»Sie hielten Händchen«, fügte die Duchess hinzu, lächelte breit und zeigte ihre fauligen Zähne.
Jetzt konnte Lydia nicht mehr so tun, als sei alles in Ordnung. »Oh, mein Gott!« rief sie aus. »Was hat das Kind denn nun schon wieder angestellt?«
Die Duchess bemerkte: »Zu meiner Zeit ging man nicht ohne Anstandsdame aus, und damals hätte so etwas nicht passieren können.«
Daß die Duchess an dieser Katastrophe ein solches Vergnügen fand, brachte Lydia plötzlich in Wut. »Das war vor hundert Jahren«, bemerkte sie schnippisch und entfernte sich. Eine Tweedmütze! Händchenhalten! Vierzig Jahre alt! Es war so unglaublich, daß sie es nicht fassen konnte. Die Mütze bedeutete, daß er der Arbeiterklasse angehörte. Das Alter sagte, daß er ein Wüstling war, und das Händchenhalten wies darauf hin, daß die Sache schon weit gediehen sein mußte, vielleicht zu weit. Was kann ich tun, überlegte sie hilflos, wenn das Kind ohne mein Wissen aus dem Hause geht? Oh, Charlotte, du weißt ja nicht, was du dir antust!
»Wie war der Boxkampf?« fragte Charlotte Belinda.
»In seiner gräßlichen Art furchtbar aufregend«, sagte Belinda. »Zwei riesige Männer, halbnackt und nur mit kurzen Hosen bekleidet, standen da und versuchten, sich gegenseitig totzuschlagen.«
Charlotte sah nicht ein, wieso das aufregend sein sollte.
»Das klingt ja entsetzlich.«
»Ich war so erregt …«, Belinda sprach ganz leise, »daß ich Peter fast zu weit gehen ließ.«
»Was willst du damit sagen?«
»Du weißt schon. Danach, in der Droschke auf dem Heimweg. Ich ließ mich von ihm . küssen, und so weiter.«
»Was heißt ›und so weiter‹?«
Belinda flüsterte: »Er küßte meinen Busen.«
»Ach!« Charlotte runzelte die Stirn. »War es schön?«
»Himmlisch!«
»Wirklich?« Charlotte versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Freddy ihren Busen küßte, und irgendwie wußte sie, daß es nicht himmlisch sein würde.
Mama kam an ihnen vorbei und sagte: »Wir gehen jetzt, Charlotte.«
Belinda sagte: »Sie sieht verärgert aus.«
Charlotte zuckte mit der Schulter. »Das ist nichts Ungewöhnliches.«
»Wir gehen nachher zu einer Negerschau . willst du nicht mitkommen?«
»Was ist eine Negerschau?«
»Jazz. Eine herrliche Musik.«
»Mama würde es nicht erlauben.«
»Deine Mama ist so altmodisch.« »Als ob ich das nicht wüßte! Ich muß jetzt wohl gehen.«
»Mach’s gut!«
Charlotte ging die Treppe hinunter und holte sich ihren Mantel aus der Garderobe. Sie hatte das Gefühl, zwei Menschen in ihrer Brust zu tragen, wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Der eine lächelte, machte höfliche Konversation und plauderte mit Belinda über Mädchenangelegenheiten, während der andere an Entführung und Verrat dachte und mit unschuldigem Gesicht hinterhältige Fragen stellte. Ohne auf ihre Eltern zu warten, ging sie hinaus und beauftragte den Diener, den Waidenschen Wagen kommen zu lassen.
Einige Minuten später fuhr der Lanchester am Hause vor. Es war ein warmer Abend, und Pritchard hatte das Verdeck heruntergelassen. Er stieg aus und öffnete Charlotte den Schlag.
»Pritchard, wo ist Fürst Orlow?«
»Das ist ein Geheimnis, Lady Charlotte.«
»Sie können es mir ruhig sagen.«
»Es wäre mir lieber, Sie fragten Ihren Papa,
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