Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Kunst war ein Gebiet menschlicher Erfahrung, das ihm fremd geblieben war.
Vielleicht würde Charlotte ihn eines Tages darin einweihen. Aber das war höchst unwahrscheinlich. Vorerst mußte er die kommenden Tage überleben und dann, nachdem er Orlow umgebracht hatte, fliehen. Aber auch das war nicht sicher. Schließlich mußte er versuchen, sich Charlottes Zuneigung zu erhalten, obgleich er sie ausgenutzt und belogen und ihren Vetter umgebracht hatte. Eine fast unmögliche Aufgabe, die noch zusätzlich dadurch erschwert werden würde, daß er ständig vor der Polizei auf der Hut sein müßte. Nein, es bestand kaum eine Chance, sie nach dem Mord wiederzusehen. Er sagte sich: Genieße wenigstens die letzten Stunden mit ihr.
Es war vier Uhr dreißig.
Sie hat sich nicht verspätet, dachte er mutlos; sie kann nicht kommen. Hoffentlich hat sie keine Schwierigkeiten mit Waiden. Hoffentlich ist sie kein Risiko eingegangen und wurde nicht ertappt. Wenn sie doch jetzt die Treppen heraufgerannt käme, außer Atem und mit leicht gerötetem Gesicht, den Hut etwas schief auf dem Kopf, das hübsche Gesicht leicht verängstigt, und sagte: »Es tut mir furchtbar leid, daß ich Sie so lange warten ließ, aber ich wurde aufgehalten …«!
Das Gebäude leerte sich langsam. Felix fragte sich, was er tun solle. Er ging hinaus, stieg die Treppen hinunter und stellte sich auf den Gehsteig. Sie war nirgends zu sehen. Er ging wieder hinauf und wurde an der Tür von einem Museumswärter angehalten. »Zu spät, mein Freund«, sagte der Mann, »wir schließen.« Felix drehte sich um. Auf der Treppe konnte er nicht warten, denn hier auf dem Trafalgar Square fiel er zu sehr auf. Außerdem waren bereits zwei Stunden vergangen.
Sie kommt bestimmt nicht mehr.
Mach dir nichts vor, dachte er. Sie hat beschlossen, nichts mehr mit dir zu tun zu haben, und das war auch sehr vernünftig von ihr. Aber wäre sie dann nicht wenigstens gekommen, um mir das zu sagen? Sie hätte mir einen Brief schreiben können..
Sie hat Bridgets Adresse. Sie hat mir sicher einen Brief geschrieben. Felix ging schnellen Schrittes in nördlicher Richtung davon.
Er passierte die Gassen des Theaterbezirks und die stillen Plätze von Bloomsbury. Das Wetter schlug um. Seit seiner Ankunft in England war es immer sonnig und warm gewesen und er hatte noch keinen Regen gesehen. Aber seit etwa vierundzwanzig Stunden war die Atmosphäre drückend geworden. Vielleicht zog ein Gewitter auf.
Er überlegte, wie wohl das Leben in Bloomsbury sein mochte, wo all die wohlhabenden Kleinbürger wohnen, wo es immer genug zu essen gab und dazu noch Geld für gute Bücher. Nach der Revolution lassen wir die Zäune um die Parks verschwinden, dachte er.
Er hatte Kopfschmerzen. Seit seiner Kindheit hatte er nicht mehr an Kopfschmerzen gelitten. Könnte es von der drückenden Luft kommen? Es waren wohl eher die Sorgen. Nach der Revolution, beschloß er, werden Kopfschmerzen verboten sein.
Werde ich bei Bridget einen Brief von ihr vorfinden? Er stellte es sich vor. ›Lieber Herr Kschessinsky, ich bedaure, unsere heutige Verabredung nicht einhalten zu können. Hochachtungsvoll, Lady Charlotte Waiden. ‹ Nein, so würde sie bestimmt nicht schreiben. ›Lieber Felix, Fürst Orlow wohnt bei dem russischen Marineattache, 25 A Wilton Place, 2. Stock, linkes Schlafzimmer auf der Straßenseite. Ihre ergebene Freundin Charlotte.‹ Das war schon besser. ›Lieber Vater, ja, ich habe die Wahrheit erfahren. Aber mein ›Papa‹ hat mich in meinem Zimmer eingesperrt. Bitte, komm und rette mich. Deine dich liebende Tochter Charlotte Kschessinsky.‹ Sei doch kein Narr!
Er gelangte in die Cork Street und blickte die Straße hinunter. Keine Polizisten vor dem Haus, keine breitschultrigen Gestalten in Zivilkleidung, die vor dem Pub standen und Zeitung lasen. Es sah sicher aus. Sein Herz schlug schneller. Es ist wunderbar, von einer Frau willkommen geheißen zu werden, dachte er; ob sie nun ein schlankes Mädchen wie Charlotte oder eine dicke alte Hexe wie Bridget ist. Ich habe zuviel Zeit meines Lebens mit Männern verbracht – oder allein.
Er klopfte an Bridgets Tür. Während er wartete, blickte er auf das Fenster seines alten Kellerzimmers hinunter und sah, daß neue Vorhänge dort hingen. Die Tür ging auf.
Mrs. Callahan begrüßte ihn mit einem breiten Lächeln.
»Da ist ja mein liebster internationaler Terrorist«, sagte sie.
»Kommen Sie herein, mein Schatz.«
Er trat in ihr Wohnzimmer.
»Etwas
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