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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Scotland Yard verbinden. Thomson war trotz der späten Stunde noch bei der Arbeit in seinem Büro.
    »Lady Waiden, was kann ich für Sie tun?« fragte er.
    »Wie ist die Lage?«
    »Leider schlecht. Unser Freund Felix ist uns wieder einmal durch die Finger geschlüpft.«
    Eine Welle der Erleichterung durchströmte sie. »Ich danke Ihnen«, sagte sie.
    »Sie brauchen sich wirklich keine übermäßigen Sorgen zu machen«, fuhr Thomson fort. »Fürst Orlow steht jetzt unter guter Bewachung.«
    Lydia errötete vor Scham. Sie hatte sich so gefreut, daß Felix nichts zugestoßen war, daß sie im Augenblick ganz vergessen hatte, sich um Alex und Stephen zu sorgen. »Ich … ich werde versuchen, mich zu beruhigen«, sagte sie.
    »Gute Nacht.«
    »Gute Nacht, Lady Waiden.«
    Sie hängte den Hörer auf. Dann ging sie hinauf und klingelte nach ihrer Zofe, damit sie ihr beim Auskleiden half. Sie fühlte sich niedergeschlagen. Nichts hatte sich verändert und die, die sie liebte, waren immer noch in Gefahr. Wie lange konnte das so weitergehen? Felix würde nicht aufgeben, dessen war sie sicher, nicht, solange er in Freiheit war.
    Die Zofe kam, knöpfte ihr das Kleid auf, löste die Schnüre ihres Korsetts. Manche Damen vertrauen sich ihren Zofen an, das wußte Lydia. Aber sie tat es nicht. Sie hatte es einmal getan, damals in St. Petersburg.
    Sie beschloß, an ihre Schwester zu schreiben, denn es war noch zu früh, um zu Bett zu gehen. Sie bat die Zofe, ihr Briefpapier aus dem Morgenzimmer zu holen. Dann zog sie sich einen Morgenrock über, setzte sich ans offene Fenster und starrte hinaus in den dunklen Park. Es war eine finstere Nacht. Seit drei Monaten hatte es nicht geregnet, aber in den letzten Tagen war es drückend und schwül geworden, und bald würde es ein Gewitter geben.
    Die Zofe brachte ihr Papier, Federhalter, Tinte, Briefumschläge und Sand. Lydia nahm einen Bogen und schrieb: »Liebe Tatjana …«
    Sie wußte nicht, wo sie anfangen sollte. Wie soll ich ihr das mit Charlotte erklären, wenn ich es selbst nicht begreife? Und Felix wage ich gar nicht zu erwähnen, denn Tatjana könnte es dem Zaren erzählen, und wenn der erfuhr, wie knapp Alex einem Mordanschlag entgangen war.
    Felix ist unglaublich gerissen. Hat er etwa herausgefunden, wo Alex sich versteckt? Wir haben es nicht einmal Charlotte gesagt …
    Charlotte!
    Lydia erstarrte.
    Charlotte?
    Sie sprang auf und schrie: »Oh, nein!«
    Er war etwa vierzig und trug eine Tweedmütze.
    Ein furchtbarer Schrecken überkam sie. Es war wie einer jener quälender Träume, in denen man an das Schlimmste denkt, das möglicherweise passieren könnte, und dann passiert es wirklich: Die Leiter stürzt, das Kind wird überfahren, die geliebte Person stirbt. Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen. Sie fühlte sich schwindlig. Ich muß nachdenken, ich muß versuchen, mich zu konzentrieren. Lieber Gott, ich bitte dich, hilf mir.
    Charlotte traf sich mit einem Mann in der National Gallery. Am gleichen Abend fragte sie, wo Alex sei. Ich habe es ihr nicht gesagt. Vielleicht hat sie auch Stephen gefragt, aber er hatte es ihr bestimmt auch nicht gesagt. Dann wurde sie nach Waiden Hall geschickt und entdeckte natürlich, daß Alex dort war.
    Laß es einen Traum sein, betete sie; bitte, laß mich jetzt aufwachen und in meinem Bett liegen, dann ist alles gut.
    Aber es war kein Traum. Felix war der Mann mit der Tweedmütze. Charlotte war ihrem Vater begegnet. Sie hatten sich die Hände gehalten.
    Es war entsetzlich, ganz entsetzlich.
    Hatte Felix Charlotte die Wahrheit gesagt, hatte er gesagt: »Ich bin dein wirklicher Vater«, und damit das neunzehn Jahre lang gehütete Geheimnis preisgegeben?
    Wußte er überhaupt davon?
    Er muß es gewußt haben.
    Warum sonst hätte sie ihm geholfen?
    Meine eigene Tochter verschwört sich mit einem Anarchisten, um einen Mord zu begehen.
    Sie hilft ihm bestimmt immer noch.
    Was kann ich tun? Ich muß Stephen warnen – aber wie kann ich das, ohne ihm zu gestehen, daß er nicht Charlottes Vater ist? Wenn ich nur klar denken könnte!
    Sie klingelte wieder nach ihrer Zofe. Ich muß einen Weg finden, überlegte sie. Ich weiß nicht, was ich tun werde, aber tun muß ich etwas, unbedingt. Als die Zofe kam, sagte sie: »Packen Sie meinen Koffer. Ich reise in den ersten Morgenstunden ab. Ich muß nach Waiden Hall.«

    Nachdem es dunkel geworden war, eilte Felix über die Felder. Es war eine warme, feuchte Nacht und sehr dunkel. Schwere Wolken verhüllten Mond

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