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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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ohne ihn zu sehen und war enttäuscht, denn sie hatte ihn heute mit Bestimmtheit hier erwartet. Jetzt begann sie sich Sorgen zu machen, denn wenn sie ihn nicht warnen konnte, würde er bestimmt in die Falle gehen. Aber es war ja noch nicht einmal sieben Uhr, und vielleicht hatte er noch nicht nach ihr ausgeschaut. Sie stieg vom Sattel und führte Spats am Halfter zurück. Möglicherweise hatte Felix sie gesehen und wartete nur, um ganz sicher zu sein, daß man ihr nicht folgte. Sie blieb auf einer Lichtung stehen, um ein Eichhörnchen zu beobachten. Die kleinen Tiere waren überhaupt nicht scheu, liefen nur vor den Hunden davon. Plötzlich hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie drehte sich um, und da stand er und blickte sie mit traurigem Gesicht an.
    »Guten Morgen, Charlotte«, sagte er.
    Sie ging auf ihn zu und reichte ihm beide Hände. Sein Bart war stark gewachsen. An seinen Kleidern hingen Laubreste. »Sie sehen sehr müde aus«, sagte sie auf russisch.
    »Ich habe Hunger. Haben Sie mir etwas zu essen mitgebracht?«
    »Ach, daran habe ich gar nicht gedacht.« Sie hatte nur einen Apfel für ihr Pferd mitgenommen, aber nichts für Felix.
    »Macht nichts. Ich bin in meinem Leben schon hungriger gewesen.«
    »Hören Sie«, sagte sie. »Sie müssen sofort verschwinden. Wenn Sie jetzt gehen, können Sie noch fliehen.«
    »Warum sollte ich fliehen? Ich will Orlow entführen.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Das ist jetzt unmöglich. Er hat bewaffnete Leibwächter, Polizisten haben das Haus umstellt, und um neun Uhr werden hundertfünfzig Mann auf Sie angesetzt.«
    Er lächelte. »Und falls ich entkomme, was soll ich dann mit dem Rest meines Lebens anfangen?«
    »Ich will nicht an Ihrem Selbstmord beteiligt sein.«
    »Setzen wir uns ins Gras«, sagte er. »Ich muß Ihnen etwas erklären.«
    Sie setzte sich und lehnte sich mit dem Rücken an eine Eiche. Felix nahm ihr gegenüber Platz, mit verschränkten Beinen, wie ein Kosake. Die durch das Laub dringenden Sonnenstrahlen spielten auf seinem müden Gesicht. Er sprach merkwürdig feierlich, in vollständigen Sätzen, die er auswendig gelernt zu haben schien. »Ich erzählte Ihnen, ich sei vor langer Zeit einmal in eine Frau namens Lydia verliebt gewesen, und Sie sagten: ›So heißt ja auch meine Mutter.‹ Erinnern Sie sich?«
    »Ich erinnere mich an alles, was Sie mir gesagt haben.«
    Sie fragte sich, was das bedeuten solle.
    »Es war Ihre Mutter.«
    Sie starrte ihn an. »Sie waren in Mama verliebt?«
    »Mehr als das. Wir hatten ein Verhältnis. Sie pflegte allein zu mir in meine Wohnung zu kommen – verstehen Sie, was ich meine?«
    Charlotte errötete vor Verwirrung und Verlegenheit.
    »Ja, ich verstehe.« »Lydias Vater, Ihr Großvater, fand es heraus. Der alte Graf ließ mich verhaften, und dann zwang er Ihre Mutter, Waiden zu heiraten.«
    »Oh, wie schrecklich«, sagte Charlotte leise. Irgendwie fürchtete sie sich vor dem, was jetzt folgen mochte.
    »Sie wurden sieben Monate nach der Hochzeit geboren.«
    Das schien er für sehr bedeutungsvoll zu halten. Charlotte blickte ihn verwundert an.
    Felix fuhr fort: »Wissen Sie, wie lange ein Kind braucht, um geboren zu werden?«
    »Nein.«
    »Normalerweise neun Monate, manchmal allerdings auch etwas weniger.«
    Charlottes Herz pochte. »Worauf wollen Sie hinaus?«
    »Sie könnten vor der Hochzeit gezeugt worden sein.«
    »Soll das bedeuten, daß Sie mein Vater sein könnten?« fragte sie ungläubig.
    »Ja, und dafür spricht auch, daß Sie meiner Schwester Natascha ungemein ähnlich sehen.«
    Charlotte spürte, wie etwas ihre Kehle zuschnürte, so daß sie kaum sprechen konnte. »Sie glauben also, Sie seien mein Vater?«
    »Ich bin davon überzeugt.«
    »Oh, mein Gott!« Charlotte stützte den Kopf in die Hände, starrte ins Leere, sah überhaupt nichts mehr. Sie fühlte sich, als erwache sie aus einem Traum und war noch nicht fähig, das Geträumte von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Sie dachte an Papa, der nicht ihr Papa war; sie dachte an Mama, die einen Liebhaber hatte; sie dachte an Felix, ihren Freund, der nun plötzlich ihr Vater war …
    Sie sagte: »Sogar darüber hat man mich belogen.«
    Sie war so verwirrt, daß sie sich schwindlig fühlte. Es war, als habe ihr jemand erzählt, alle Landkarten, die sie kenne, seien Fälschungen, und sie lebe in Wirklichkeit in Brasilien, oder der wirkliche Besitzer von Waiden Hall sei Pritchard, oder die Pferde könnten sprechen und schwiegen nur aus besserer

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