Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
von Männern und Frauen die Rede ist . und wenn er von Politik spricht, erscheinen mir seine Ansichten stets ein bißchen spießig.«
»Das ist doch ganz natürlich. Er hat sein Leben lang immer alles gehabt, was er sich wünschte, und alles ist ihm in den Schoß gefallen. Kein Wunder, daß er die Welt, so wie sie ist, für wunderbar hält, von einigen kleinen Problemen, die sich leicht ausbügeln lassen, abgesehen. Lieben Sie ihn?«
»Ja, außer in den Augenblicken, in denen ich ihn hasse.«
Felix blickte sie so eindringlich an, daß ihr unbehaglich wurde. Er schien jedes ihrer Worte und jeden Ausdruck ihres Gesichts intensiv in sich aufzunehmen. »Papa ist ein sehr liebenswerter Mensch. Warum interessiert Sie das so?«
Er lächelte seltsam. »Ich habe, solange ich denken kann, die herrschende Klasse bekämpft, aber nur selten Gelegenheit gehabt, mich mit jemandem zu unterhalten, der ihr angehört.«
Charlotte wußte sofort, daß das nicht der wahre Grund war, und sie überlegte, warum er sie belügen sollte. Vielleicht war er über irgend etwas in Verlegenheit – das war gewöhnlich der Grund, weshalb Leute ihr gegenüber nicht ganz ehrlich waren. Sie sagte: »Ich bin kein Mitglied der herrschenden Klasse. Ich gehöre ihr ebensowenig an wie die Hunde meines Vaters.«
Er lächelte. »Erzählen Sie mir von Ihrer Mutter.«
»Sie hat schwache Nerven. Manchmal muß sie Laudanum einnehmen.«
»Was ist Laudanum?«
»Ein Medikament, das Opium enthält.«
Er hob die Brauen. »Das klingt aber sehr bedenklich.«
»Warum?«
»Ich dachte, das Einnehmen von Opium gilt als dekadent.«
»Aber nicht, wenn man es aus medizinischen Gründen nimmt.«
»Aha.«
»Sie sind skeptisch.«
»Das bin ich immer.«
»Nun kommen Sie schon, und sagen Sie mir, was Sie meinen.«
»Falls Ihre Mutter Opium braucht, weist es meiner Meinung nach eher darauf hin, daß sie unglücklich ist, und nicht krank.«
»Warum sollte sie denn unglücklich sein?«
»Das müssen Sie mir sagen. Es ist ja Ihre Mutter.«
Charlotte überlegte. War Mama unglücklich? Zufrieden war sie bestimmt nicht, so wie Papa es zu sein schien. Sie machte sich zu viele Sorgen, und bei dem geringsten Anlaß verlor sie die Nerven. »Sie ist etwas reizbar«, sagte sie.
»Aber ich kann mir nicht denken, warum sie unglücklich sein sollte. Vielleicht kommt es daher, daß sie ihr Heimatland verlassen hat.«
»Das ist möglich«, sagte Felix, aber es klang nicht überzeugt. »Haben Sie noch Brüder und Schwestern?«
»Nein. Meine beste Freundin ist meine Cousine Belinda, sie ist so alt wie ich.«
»Was haben Sie sonst noch für Freunde?«
»Keine Freunde, nur Bekannte.« »Andere Vettern oder Cousinen?«
»Zwei Zwillingsvettern, sechs Jahre alt. Natürlich habe ich noch eine Reihe Vettern in Rußland, aber die habe ich nie gesehen, außer Alex, und der ist viel älter als ich.«
»Und was werden Sie mit Ihrem Leben anfangen?«
»Das ist aber eine Frage!«
»Wissen Sie es denn nicht?«
»Ich habe mich noch nicht entschlossen.«
»Was steht zur Wahl?«
»Hm. Man erwartet von mir, daß ich einen ebenbürtigen jungen Mann heirate und Kinder kriege. Ich nehme an, ich werde heiraten müssen.«
»Warum?«
»Nun ja, erstens einmal kommt Waiden Hall mir nicht zu, wenn Papa einmal sterben sollte, verstehen Sie.«
»Warum nicht?«
»Weil es zum Titel gehört – und ich kann nicht der Earl of Waiden werden. So wird Peter, der ältere von den Zwillingen, das Haus erben.«
»Ich verstehe.«
»Und zweitens kann ich mir meinen Lebensunterhalt nicht verdienen.«
»Natürlich können Sie das.«
»Ich habe nichts gelernt.«
»Dann lernen Sie etwas.«
»Was sollte ich denn tun?«
Felix zuckte mit den Schultern. »Züchten Sie Pferde. Legen Sie sich einen Laden zu. Gehen Sie in den Staatsdienst. Werden Sie Mathematiklehrerin. Schreiben Sie ein Theaterstück.« »Sie reden, als könnte ich alles tun, was ich mir vornehme.«
»Warum nicht? Aber ich habe auch eine ganz ernsthafte Idee. Sie beherrschen die russische Sprache perfekt – Sie könnten Romane ins Englische übersetzen.«
»Glauben Sie wirklich, daß ich das könnte?«
»Ich habe nicht den geringsten Zweifel.«
Charlotte biß sich auf die Lippe. »Wie kommt es, daß Sie mir viel mehr zutrauen als meine Eltern?«
Er dachte einen Augenblick nach und lächelte dann.
»Wenn ich Sie erzogen hätte, würden Sie sich jetzt beklagen, ständig zu ernsthafter Arbeit gezwungen worden zu sein und nie tanzen gehen
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