Der Mann, der den Regen träumt
…«
»Satellitenverfolgung«, sagte Sidney leise.
»Haben sich die Ziegen in den letzten hundert Jahren vielleicht verändert? Haben die wilden Hunde angefangen, in Helikoptern herumzufliegen? Die Methoden meiner Familie waren bis jetzt immer ausreichend. Und das werden sie auch weiterhin sein.«
Sidney seufzte. »Wir haben doch schon darüber gesprochen. Ich möchte nicht, dass Sie Ihre gesamte Zeit darauf verwenden, Ziegen und Hunde zu jagen. Ich möchte, dass Sie sich der Wurzel all dieses Übels zuwenden.«
Daniel schnaubte. »Um an die Wurzel dieses Übels zu gelangen, müsste ich schon jede Ziege in einem Umkreis von hundert Meilen erschießen. Dafür bräuchte ich eine ganze Armee.«
»Ich rede hier nicht von den Ziegen und das wissen Sie genau.«
Daniel blickte trotzig die Straße hinunter. Eine leichte Brise hob das Fell der Ziege an, die er noch immer an den Hörnern gepackt hielt, und wehte ihm ihren staubigen Geruch in die Nase.
»Und wie ich Ihnen schon gesagt habe, ist Old Man Thunder nichts als ein Märchen. Kommen Sie, Mr Moses, es gibt unendlich viele Legenden über diese Gegend, warum müssen Sie sich ausgerechnet an diese eine klammern? Ich sage es Ihnen: Weder ich noch irgendjemand anderes wird jemals Old Man Thunder aufspüren, weil es ihn nicht gibt – und das hat es noch nie.«
Sidney lächelte, doch Daniel traute dem Ganzen nicht. Er wusste, dass Sidney ihn auf die Probe stellte, auch wenn er sich nicht sicher war, worauf er hinauswollte.
»Manche Leute behaupten, ihn gesehen zu haben.«
»Manche Leute behaupten eine ganze Menge. Worte bedeuten gar nichts, Mr Moses.«
Sidney musterte ihn eine Weile prüfend, dann zuckte er mit den Schultern und leckte sich über die Lippen. »Stellen Sie sich nur mal einen Moment lang vor, es gäbe ihn! Tun Sie einfach mal so, mir zuliebe. Stellen Sie sich vor, ich hätte selbst ein bisschen nachgeforscht mit der ganzen neuen Ausrüstung, auf die ich Zugriff habe, und ich hätte ihn gefunden und würde ihn morgen zu Ihnen bringen. Ich würde ihn in die Stadt herunterschleifen und ihn dem Urteil unseres Bergjägers überlassen. Was würden Sie dann tun?«
»Sie würden erst mal beweisen müssen, dass es Old Man Thunder ist.«
»Und wenn ich das könnte? Wenn er hier vor Ihnen stünde, vor Wetter nur so strotzend, und beteuern würde: ›Ich bin es.‹ Was dann?«
Daniel stieß abfällig die Luft aus. »Dann gar nichts. Das sind doch alles nur sinnlose Spekulationen.«
»Würden Sie Ihre Pflicht erfüllen, Mr Fossiter? Wenn das Wesen, das all Ihre Vorväter zum Narren gehalten hat, zum Greifen nahe vor Ihnen stünde?«
Daniel räusperte sich. »Mr Moses, ich weiß nicht, was ich noch dazu sagen soll. Ich glaube nicht an Old Man Thunder. Und ich denke, das habe ich Ihnen ausreichend klargemacht.«
»Nein, Mr Fossiter«, erwiderte Sidney liebenswürdig. »Sie haben mir klargemacht, dass Sie meiner Frage mit allen Mitteln ausweichen. Ich glaube nicht, dass Sie dazu in der Lage wären. Die Leute machen sich Sorgen, sie glauben, dass Sie weich geworden sind. Diese Munro-Frau, die damals aus Übersee gekommen ist, die hat Ihnen etwas genommen, das Sie seither nicht wiedergefunden haben. Sie hat Ihren Geist verwirrt und Sie Ihrer Härte beraubt und heute bemuttern Sie nur noch Ihren blinden alten Hund.«
Die Beleidigung ließ Daniel vor Wut erzittern wie der Wind das Fell der Ziege. Seine Schultern versteiften sich. »Jetzt hören Sie mir mal genau zu, Mr Moses. Wenn Sie mir Old Man Thunder brächten und sich herausstellte, dass er all das ist, was die Leute ihm unterstellen, dann würde ich ihm, ohne zu zögern, die Kehle aufschlitzen. Bitte, nun haben Sie es gehört und können den Bewohnern von Thunderstown sagen, dass ihre Sorgen unbegründet sind. Und noch etwas: Betty Munro hat mir nichts genommen, sondern mir Dinge gegeben, die Sie niemals verstehen können. Wenn ich auf Sie schwach wirke, dann, weil ich es schon immer gewesen bin und nicht ihretwegen.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und ließ Sidney Moses stehen.
Nach der Trauerfeier für ihren Vater stand Elsa im Garten vor dem Krematorium und atmete tief den peitschenden Wind ein. Die Blumen in den Beeten standen in voller Blüte und nickten im Luftzug mit den Köpfen. Elsa fragte sich, ob die Betreiber des Krematoriums sich einen Scherz erlauben wollten, als sie sich entschlossen hatten, hier Paradiesvogelblumen zu pflanzen, deren orangefarbene Blütenblätter an züngelnde
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