Der Mann, der kein Mörder war
wäre der Staatsanwalt jedoch nur schwer davon zu überzeugen, ihn länger in Untersuchungshaft zu lassen. Torkel und Ursula beschlossen, das gesamte Team zusammenzutrommeln, um das weitere Vorgehen zu besprechen.
Mit diesen Gedanken trat Torkel durch die Türen des Polizeipräsidiums, wo ihn die Empfangsdame sofort zu sich winkte.
«Sie haben Besuch», sagte sie und deutete auf die grüne Sitzlandschaft am Fenster. Dort saß eine übergewichtige, schlechtgekleidete Frau. Als sie sah, dass die Rezeptionistin auf sie zeigte, erhob sie sich.
«Wer ist das?», fragte Torkel, der es eigentlich nicht gewohnt war, überrumpelt zu werden, mit gesenkter Stimme.
«Lena Eriksson. Roger Erikssons Mutter.»
Die Mutter also, na klasse, dachte Torkel noch schnell, ehe diese ihm im nächsten Moment auf die Schulter tippte.
«Sind Sie zuständig? Für den Mord an meinem Sohn?»
Torkel drehte sich um.
«Ja. Torkel Höglund. Mein Beileid.»
Lena Eriksson nickte nur.
«Also war es Leo Lundin?»
Torkel blickte die Frau an, die ihn erwartungsvoll fixierte. Natürlich wollte sie es wissen. Es bedeutete viel für die Trauerarbeit, dass der Mörder gefunden, verhaftet und verurteilt wurde. Aber mit dieser Antwort konnte Torkel ihr nicht dienen.
«Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt keine Auskunft über Ermittlungsdetails geben.»
«Aber Sie haben ihn doch verhaftet?»
«Wie gesagt, ich darf mit Ihnen nicht darüber sprechen.»
Lena schien nicht einmal zuzuhören. Sie kam einen Schritt auf Torkel zu. Zu nah. Torkel musste den Impuls unterdrücken, zurückzuweichen.
«Er hatte es immer schon auf Roger abgesehen und hat auf ihm herumgehackt. Immer. Es war seine Schuld, dass Roger auf diese bescheuerte, versnobte Schule gewechselt ist.»
Ja, es war seine Schuld gewesen. Leo Lundins Schuld. Oder Leonard, was war das eigentlich für ein bescheuerter Name? Wie lange das Mobbing schon angedauert hatte, wusste Lena nicht. Es hatte in der Mittelstufe begonnen, so viel konnte sie sagen, aber Roger hatte es nicht gleich erzählt. Hatte nichts erwähnt von gehässigen Spitznamen und Rempeleien im Gang, von zerrissenen Büchern und aufgebrochenen Spinden. Hatte Ausreden erfunden, warum er mitunter mit nacktem Oberkörper oder durchnässten Schuhen nach Hause gekommen war, hatte nicht gebeichtet, dass man ihm das T-Shirt zerrissen hatte und er seine Schuhe nach dem Sportunterricht in der Toilette wiedergefunden hatte. Hatte immer eine Erklärung dafür parat gehabt, warum sein Geld und andere Dinge verschwunden waren. Doch Lena hatte den wahren Grund geahnt, und Roger hatte schließlich manches davon eingestanden. Aber jetzt sei alles in Ordnung, hatte er gesagt. Er habe die Lage unter Kontrolle und käme allein damit klar. Wenn sie sich einmischte, würde alles nur noch schlimmer. Doch dann kam die Gewalt. Die Schläge. Die blauen Flecke. Die aufgeplatzten Lippen und geschwollenen Augen. Der Tritt gegen den Kopf. Da hatte Lena mit der Schule Kontakt aufgenommen. Hatte Leo und seine Mutter getroffen und unmittelbar nach dem einstündigen Gespräch beim Rektor eingesehen, dass hier keine Hilfe zu erwarten war. Es bestand kein Zweifel daran, wer bei den Lundins das Sagen hatte.
Lena wusste, dass sie intellektuell nicht gerade eine Leuchte war, aber sie verstand etwas von Macht. Der Chef war nicht notwendigerweise derjenige, der die Entscheidungen traf. Der Rektor nicht derjenige, der über das Lehrerkollegium bestimmte. Und nicht alle Eltern besaßen Autorität. Lena erkannte leicht, wer wirklich die Macht hatte und wie sie eingesetzt wurde. Und sie verstand, wie sie selbst sich verhalten musste, um so viele Vorteile wie möglich daraus zu ziehen. Oder zumindest keine Nachteile. Vermutlich galt sie deswegen bei manchen Menschen als intrigant, als eine, die ihr Fähnchen nach dem Wind drehte oder sich überall anbiederte. Aber nur so konnte man ein Leben bewältigen, in dem man von Macht umgeben war, ohne selbst welche zu besitzen.
Das ist aber nicht wahr,
sagte die leise Stimme in ihrem Kopf, die sie schon den ganzen Tag begleitete.
Du hattest Macht.
Lena verdrängte die Stimme, sie wollte nicht darauf hören. Sie wollte hören, dass Leo es getan hatte. Er war es gewesen! Sie wusste es. Es musste einfach so sein. Sie musste den gutgekleideten, älteren Herren vor ihr lediglich davon überzeugen.
«Ich bin mir sicher, dass er es war. Er hat Roger nicht das erste Mal verprügelt. Wir haben es nie bei der Polizei
Weitere Kostenlose Bücher