Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte
Plädoyer gebrütet, als hinge davon alles ab und als sei es gar keine Frage, dass es bei dieser Verhandlung mit rechten Dingen zugehen würde. Aber mir Gedanken für formale Rechtsabläufe zu machen, das kam mir erst jetzt in den Sinn. Gehörte es denn nicht zu einer korrekten Verhandlung, im Vorfeld die Personalien des Angeklagten zu prüfen, ihn eingehend zu befragen? In seiner Heimat Erkundigungen über Vorstrafen einzuholen? Zu klären, was er überhaupt im Ausland zu schaffen hatte? All diese Fragen wurden nicht einmal gestellt. Die Wärter führten mich an eine Rampe, es ging ein paar Treppen hinab, draußen war es schneidend frostig, die Luft war rauchig, löchriger Asphalt eines Innenhofes, Mauer mit Stacheldraht, wir stiegen in einen kastenförmigen grauen Gefängniswagen, ich wurde auf einer der Rückbänke zwischen den Wärtern eingeklemmt, röhrend startete der Motor. Unter dem Ärmel des einen Wärters schaute eine Armbanduhr hervor. Es war sechs Minuten nach zwei Uhr nachmittags.
Um 14.27 Uhr hielt der Wagen neben einem Backsteinkomplex. Ich wurde durch einen Nebeneingang geführt und in ein Zimmer beo rdert. Fingerabdrücke wurden mir genommen; die Tinte bekam ich auch mit dreimal waschen nicht von den Fingern. Ich sah eine Akte auf dem Tisch vor mir liegen. Sie war ein Stück entfernt und lag für mich verkehrt herum, aber auf dem Kopf des Deckblattes erkannte ich dennoch zweifelsfrei meine vollständige Adresse. Das erst rüttelte mich auf.
„Woher wissen Sie denn meine Personalien?“, fragte ich den Justi zbeamten mir gegenüber, der gerade das Blatt mit meinen Fingerabdrücken in die Akte steckte.
„Why do you know my a ddress? I never told anybody!”
Der Wärter zu meiner linken wollte mich an den Handschellen vom Stuhl ziehen. Ich widersetzte mich.
„Moment!“
Der Justizbeamte klemmte sich die Akte unter den Arm und ging zur Tür. Wieder zerrte der Wä rter an meinen Handschellen, und als ich erneut dagegen zerrte, packte mich der andere Wärter an meinem verletzten Handgelenk. Er schloss beide Hände fest um meine Wunde und verdrehte sie gegeneinander. Ich schrie auf, und schon hatten sie mich mit einem Ruck auf die Füße gestellt.
Der Schmerz war so fürchterlich als hätte man mich noch einmal an der selben Stelle gebissen. Es trieb mir die Tränen in die A ugen. Ich krümmte mich zusammen und war leicht abzuführen. Der Block mit meinem Plädoyer fiel mir aus den Fingern. Der Wärter rechts von mir hob ihn auf und trug ihn für mich. Ein paar Gänge, eine Tür, dahinter ein Raum so groß wie ein Klassenzimmer. Der Tür gegenüber stand erhöht ein Pult im Raum, daneben zwei Tische, davor ein Stehpult und ringsum im rechten Winkeln weitere Tische mit Stühlen dahinter. Über dem erhöhten Pult hing ein Kreuz an der Holzwand. An dem Haken, an dem es aufgehängt war, musste lange Zeit etwas anderes angebracht gewesen sein, ein Rahmen mit dem Foto des jeweiligen Generalsekretärs vermutlich, die Holzwand war ein Rechteck groß darunter dunkler als die Wand ringsum. Obwohl Gorbatschow – ich hatte nicht mitgekommen, dass er zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr herrschte und alles anders war – ein Hoffnungsträger für mich gewesen war, ich mit der Kirche dagegen noch nie etwas hatte anfangen können, war mir der Anblick des Kreuzes willkommener, es verband sich damit eine unbegründbare Hoffnung auf Gerechtigkeit.
Der Justizbeamte legte die Mappe mit meiner Akte auf dem Richte rpult ab. Stehend hatte ich abzuwarten, wie nach und nach die Protokollantin, der Staatsanwalt, mein Rechtsanwalt, zwei Beisitzer und endlich der Richter in den Saal kamen und sich auf die Plätze verteilten.
Der Richter, ein unrasierter, rotbackiger Mensch in den Fünfz igern, der eher wie ein verschrobener, versoffener Holzfäller wirkte, sagte ein paar Sätze in den Raum. Es übernahm der Staatsanwalt, weitere Sätze wurden gesprochen, von denen ich nur verstand, dass sie gegen mich gerichtet waren. Dann wurde die Frau in den Gerichtssaal geführt. An den Haaren erkannte ich sie. Ich fragte mich, warum die Gangster sich gerade für sie entschieden hatten. Sie war unauffällig, einigermaßen hübsch zwar, aber verlebt für ihr Alter und ohne erotische Ausstrahlung. Sie wirkte gefasst und gut bei Kräften, aber vermied es ängstlich, mich anzusehen.
Der Staatsanwalt stellte ihr ein paar Fragen. Sie antwo rtete mit leiser Stimme, und ich wurde mir gewahr, dass ich mich ihr gegenüber schuldig
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