Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte
zerrten mir die Anstaltskluft vom Leib. Für eine Sekunde wurde mein Kopf so gedreht, dass ich die Wärter grinsen sehen konnte. Ich befürchtete das Schlimmste, nämlich, dass hier schon zur Begrüßung Gleiches mit Gleichem vergolten werden sollte, aber zum Glück – GLUCK IN UNGLUCK – ging es nur um meine sauberen Sachen. Der Elch passte in meine Hosen, ein schiefäugiger Kobold schüttelte das Pulver heraus und zwängte sich in meinen Kittel. Ich steckte noch ein paar Tritte ein, jemand wollte sich schnell noch meine Galoschen holen, ohne seine dagegen zu tauschen, wogegen ich mich erfolgreich zur Wehr setzte, dann wurde ich in Ruhe gelassen. Am Gitter kauerte ich, mir gegenüber eine grölende, stinkende Masse von Feinden, die mich aus Prinzip hassten, weil ich Ausländer war und ihnen als Vergewaltiger einer ihrer Frauen vorgeführt. Keine Sekunde meinte ich es hier aushalten zu können. Aber ich würde es ertragen müssen: 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche – lebenslänglich!
Kapitel 8
In gewisser Weise war es sogar hilfreich, dass ich von meinen Mi thäftlingen vom ersten Augenblick an tyrannisiert wurde. Dadurch war ich gezwungen, mich ständig zu wehren und um meine bloße Daseinsberechtigung zu kämpfen, so dass ich nicht zum Nachdenken kam. Nachdenken hätte bedeutet: erkennen, wie aussichtslos meine Lage war – mich aufgeben und zerbrechen.
Die Wärter stiegen die Treppen hoch und verließen den Zelle ntrakt, und damit begann ein Alltag für mich, der, wenn ich Pech hatte, 40 Jahre und mehr dauern würde. Der Elch und der Kobold hatten Hose und Kittel gegen meine getauscht und fallen gelassen. Niemand aus meiner früheren Welt hätte diese Lumpen auch nur zum Auswischen einer Kloschüssel genommen, derart stinkend und verdreckt waren sie. Die scheußlichen Sachen an mich zu nehmen, kam mir als tollkühnes Wagnis vor: War mir das überhaupt erlaubt? Alle schwiegen, alle starrten mich an. Ich wischte mir den Rest des Pulvers vom Leib, stieg in die Hose, wand mich in den Kittel, stand dann da und begriff die Leere meines neuen Daseins.
Ein L eben besteht doch letztlich nur aus Folgendem: Man verspürt ein Bedürfnis, fasst einen Vorsatz, überlegt sich die Durchführung, trifft eine Entscheidung, handelt und sieht sich den Konsequenzen dieses Handelns ausgesetzt. Alltag, das ist nichts als die enge und engste Verzahnung und Überlagerung der unterschiedlichsten Bedürfnisse, Vorsätze, Entscheidungen, Durchführungen und Konsequenzen.
Auch in dieser Massenzelle gab es Bedürfnisse, es gab unendlich viel Zeit, aber Handeln war unmöglich, Konsequenzen und Folgebedürfnisse w aren außer Reichweite. Sich etwas vornehmen zu können, begrenzt den Raum und es begrenzt die Zeit. Ohne Vorsätze und die Möglichkeit zu handeln ist das bloße Existieren uferlos, und man könnte daran verzweifeln. Das war es, was ich vom ersten Moment an in dieser Zelle empfand.
Andererseits gab es hier Herausforderungen und Ablenkungen, die man sich in einem normalen Alltag nicht hä tte vorstellen können. Für ein letztes Mal hatte ich, wenn auch in ungewöhnlicher Form, das gewohnte Muster von Bedürfnis über Entscheidung, Vorsatz und Handlung hin zu den Konsequenzen durchlaufen: Ich stand entblößt am Gitter, hatte die Wahl, meine Sachen zurückzufordern und wenn nötig dafür zu kämpfen, sah mich in hoffnungslos unterlegener Position und entschied mich dafür, lieber die fremden Lumpen an mich zu nehmen. Die Konsequenz war Ekel, vielleicht würde ich mir einen Ausschlag holen, aber ich war nicht mehr nackt.
Was kam nun? Ich hatte das Bedürfnis, nicht länger herumzust ehen und den Blicken der Meute ausgesetzt zu sein, sondern Kontakt aufzunehmen, mich einzufügen, wenn das nun mal meine künftige Lebensgemeinschaft sein sollte, mich zu setzen und zu sammeln. Darüber hinaus war ein Zukunftsplanung nicht möglich, also hielt ich mich nicht auf und entschied mich, in dieser Sache in die Offensive zu gehen.
„Spricht hier jemand deutsch“, fragte ich in die Runde.
Kein Kopfschütteln, kein Nicken, nur finsteres Starren.
„Someone here who speaks English?“
Keine Reaktion. Ich nickte vor mich hin, brachte ein Lächeln zustande und suchte mir einen aus, der mir am wenigsten feindselig und aggressiv vorkam.
Vielleicht machte ich in diesem Moment den entscheidenden Fe hler. Vielleicht hätte ich die Bande von der Spitze her aufrollen müssen, hätte auf den Elch oder den Kobold zugehen müssen,
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