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Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Titel: Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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einen der Anführer oder zumindest einen, der genug Respekt zu genießen schien, um es sich erlauben zu können, sich von einem ausländischen Vergewaltiger ansprechen zu lassen.
    Ich allerdings entschied mich für e inen, der verloren in der Ecke hockte, der nicht weniger Außenseiter zu sein schien als ich selbst, einen dürren Jüngling mit beulenübersätem Gesicht, neben dem, das war mein Hauptaugenmerk, ein Plätzchen frei war, auf dem man angelehnt sitzen und sogar einigermaßen ausgestreckt hätte liegen können. Hier würde mich niemand anstarren können, ohne sich den Hals zu verrenken.
    „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte ich und übersetzte mein Anliegen in die Weltsprache des Körpers: ein freundliches Lächeln und einen fragenden Blick mit Geste auf den fre ien Platz.
    Sofort rutschte er ein Stück nach links und blockierte nun zwei Sitzplätze. Ehe ich dazu kam, mir eine Reaktion zu übe rlegen, sprang der Elch auf und stampfte zu mir herüber. Reflexartig hob ich die Arme vors Gesicht, um eine neuerliche Ohrfeige abzuwehren, aber er packte mich nur am Kittel und schleuderte mich zurück zu der Klappe im Gitter. Mit ausgestrecktem Zeigefinger und einem röhrenden Wortschwall gab er mir zu verstehen, dass genau hier mein Platz sei: auf dem nackten, kalten Steinfußboden neben dem zugigen Gitter.
    Dieser mir zugewiesene Platz war in doppelter Hinsicht symb olisch. Es war nicht nur der ungemütlichste und unbequemste der ganzen Zelle und damit sichtbarer und spürbarer Ausdruck meiner Position in der Hackordnung dieser Gruppe; zugleich brandmarkte mich der Platz als unerwünschte Person, als von Anfang an Ausgestoßenen: Hier war ich – dort waren alle anderen und die Mauer ihrer Verachtung.
    So dehnte sich schon der erste Tag zur nicht enden wollenden To rtur. Ich stand eine Weile in der stickigen Schwüle herum, ging in die Hocke, bald taten mir Knie und Füße weh, also hockte ich mich auf den Boden. Es kroch mir die Kälte in die Innerei und den Rücken hoch, während ich oben herum nach wie vor schwitzte. Ich legte meine Hände unter den Hintern und lehnte mich ans Gitter. Bald taten mir die Hände weh. Die Bisswunde zerrte wie ein eiserner Ring am Knochen, und die Zugluft, die anfangs wohltuend wirkte, machte mein Genick steif. Also stand ich wieder auf, ging ein paar Schritte, was den Elch zu einer wütenden Geste mit der Faust veranlasste: Herumlatschen verboten! Somit stellte ich mich wieder neben die Klappe.
    Ich begann, was mir erlaubt war, in eine zeitliche Anordnung zu bringen: stehend bis 100 zä hlen, hocken, bis 100 zählen, setzen, bis 100 zählen, aufstehen, bis 100 zählen...
    Ein wenig Ablenkung brachte es, mich mit heimlichen Seitenbli cken mit den Gegebenheiten der Zelle vertraut zu machen. Die Seitenwände schätzte ich auf drei, die hintere Wand auf sechs Meter Länge und zwei Meter Höhe. Der grünlich-graue Beton war von oben bis unten bekritzelt und beschmiert mit Schriftzeichen und Bildchen. Ich hätte zu gerne nachgesehen, ob sich auch Sprüche einstiger deutscher Gefangener fanden. Entlang der drei Wände lief eine – ebenfalls restlos bekritzelte – Holzbank, die etwa einen Meter hoch und einen Meter tief war. Auf dieser Bank hockten und lungerten meine Mitgefangenen, 17 an der Zahl. 18 Insassen auf 18 Quadratmetern Raum. Im Verhältnis etwa das, was einem Huhn in einer Legebatterie zustand.
    Die Klappe, an der ich lehnte, war genau in der Mitte des Gi tters, das von Wand zu Wand und vom Boden zur Decke reichte. Der Meute mir gegenüber verging das Starren recht bald. Sie wandten sich dem zu, was offenbar ihr Lebensinhalt war: herumliegen, dösen, mal hier und da schwatzen und rempeln, vor sich hin schwitzen.
    An dem mir zugewiesenen Platz schien ich nun für sie kein Fremdkö rper mehr zu sein. Ich selbst, indessen, begann kribbliger und kribbliger zu werden. Innerhalb dieser Zelle saß ich in meiner eigenen, winzigen Zelle, in der ich nicht mal auf und ab gehen konnte – der Elch hatte mich ständig im Auge. Während die anderen Gefangenen sich wenigstens innerhalb dieser 18 Quadratmeter frei bewegen konnten, mal den Platz wechseln, sich auf der Bank ausstrecken, war ich auf meinem Quadratmeter zu weitgehender Bewegungslosigkeit verdammt. Und ich war abgeschnitten von jeglicher Information.
    Ich grübelte darüber nach, wie ich ihnen hätte mitteilen kö nnen, dass ich unschuldig war – es ihnen nur sagen zu können, ob sie mir geglaubt hätten oder nicht,

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