Der Mann der nicht zu hängen war
ich will wissen, wo sie starb und wie. Und noch etwas: Beeilen Sie sich. Ich habe nicht mehr viel Zeit!«
Das ist wie ein Roman. Die Art von Geschichten, bei denen »Intellektuelle« nachsichtig zu lächeln pflegen, weil sie es nicht wahr haben wollen, daß es im Leben eben zugehen kann wie in einem Kolportageroman. Aber was hat Somerset Cartwright nun eigentlich endlich entdeckt, nach über fünfzig Jahren? Es war, wie gesagt, im Jahre 1903 — in einem besonders schönen Sommer. Er war gerade achtzehn Jahre alt geworden, Oxford-Student im ersten Jahr mit noch recht spärlichem Bartwuchs. Die Ferien im Herrenhaus waren immer fröhlich. Im Dorf gab es viele Feste, und die jungen Schloßherren der Umgebung machten sich einen Spaß daraus, die Dorfmädchen erröten zu lassen. Nur eine einzige errötete nicht, als Somerset ihr irgendeine Dummheit an den Kopf warf. Ihre Augen funkelten pechschwarz, sie richtete sich voller Stolz auf und entgegnete ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, er sei ein verdammter Idiot! Danach hatten sie zusammen darüber gelacht, später auch miteinander getanzt. Eine ganz alltägliche Romanze. Romeo und Julia, Hand in Hand, glücklich und beschwingt, spazierten sie durch die saftgrünen Sommerwiesen.
»Somerset, du bringst uns — und auch das Mädel — ins Gerede. Ich verbiete dir, sie weiterhin zu treffen.«
»Aber ich will sie ja heiraten!«
Wie ein Donnerschlag hatten diese Worte das Schloß erschüttert. Es war die klassische Geschichte eines jungen Mannes aus nobler Familie, dem es nicht vergönnt ist, sich in irgend jemanden zu verlieben. Schon gar nicht in ein sechzehnjähriges Bauernmädchen. Und außerdem: Mit achtzehn kann man noch gar nicht lieben. Dazu ist man viel zu jung, viel zu unreif! Es tut eine Weile ein wenig weh, aber man stirbt nicht daran.
Das stimmt. Daran stirbt man nicht. Aber manchmal kommt es vor, daß man niemals vergißt — und daß man, allein schon aus Prinzip, dieser verhinderten ersten großen Liebe treu bleibt. Man bleibt Junggeselle und gewöhnt sich daran. Man wird älter, und mit der Zeit ist es dann auch zu spät für einen neuen Anfang.
So erfährt Somerset Cartwright erst in seinem 75. Lebensjahr, wie seine Liebesgeschichte einst weitergegangen war. Bisher hatte er nur die offizielle Version gekannt: Seine Julia verschwand plötzlich, ohne eine neue Adresse anzugeben, sogar ohne ein Abschiedswort. Sie wäre es in der Tat nicht wert gewesen...
Nun heute die zweite Version, die richtige: Die Eltern Cartwright besuchten den Bauern, bei dem Julia als Magd arbeitete, und bezichtigten sie der Prostitution. Ein verheerendes Wort. Julia verlor ihre Stelle und mußte sofort ihren Koffer packen. Und um ihr Gewissen von jedem Schuldgefühl reinzuwaschen, schickten die noblen Eltern eine angemessene Geldsumme an das Waisenhaus, wohin Julia zurückkehren mußte.
Dieses Geld allerdings sollte ihr erst an ihrem 21. Geburtstag ausgehändigt werden und dies nur dann, wenn sie sich bis dahin anständig benommen haben würde. Außer den Eltern, dem Bauern und Ollie, der Schwester, wußte niemand von der Geschichte.
1960 also, über fünfzig Jahre später, steht der neue Notar vor einem schwierigen Problem. Aber einem englischen Notar ist nichts unmöglich. Es erweist sich sogar als recht einfach, die Spur einer Frau namens Julia Martens zu finden, die 1887 in Halifax geboren ist.
Bei seinem nächsten Besuch beim Notar wirkt Somerset müde und abgespannt. Aber er sammelt seine Kräfte. Er muß durchhalten! Er will das Spiel gegen seine verstorbene Familie gewinnen — posthum sozusagen.
»Wie weit sind Sie mit den Recherchen?«
»Nun, zuerst einmal habe ich eine traurige Nachricht für Sie. Die Person, die wir suchten, ist bereits während des Ersten Weltkrieges gestorben. Nach meinen Informationen starb sie bei einem Bombenangriff und wurde auf einem Londoner Friedhof beerdigt. Hier haben Sie die Sterbeurkunde mit dem Namen des Friedhofs und sogar der Grabnummer. Julia Martens war ledig.«
Somerset Cartwright liest die Dokumente — er zittert etwas dabei. Julia ist also nur noch eine Nummer in einem Friedhofsregister.
»Natürlich habe ich diese Recherchen gemacht mit der Erklärung, es handele sich um eine Erbschaft — und so fand ich leicht heraus, daß Frau Martens eine Tochter hatte. Ich habe sie ausfindig gemacht.«
»Eine Tochter! Julia hatte eine Tochter?«
»Ja. Am 3. April 1904 von der ledigen Mutter selbst beim Standesamt angemeldet. Vater
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