Der Mann, der nichts vergessen konnte
links.
»Ich habe ihn nach dem Schlüssel gefragt.« Sein Blick begann im Raum umherzuirren. »Werden wir abgehört, Jamila?«
»Was weiß ich«, stieß sie zornig hervor. »Es gibt im Treppenaufgang keine Anzeichen eines Kampfes. Niemand hat einen Streit gehört. Alles sieht so aus, als hätte Lessing sich in den Tod gestürzt.«
Tim hatte das Gefühl, ihren Unmut durch ein Rohr wahrzunehmen. Die Umgebung verschwamm, und auch ihre Stimme hallte seltsam verfremdet. Er schüttelte den Kopf.
Jamila lief um den Tisch herum und legte ihm die Hand auf die Stirn. »Du bist leichenblass.«
»Danke. Ich fühle mich auch so.« Ist ihre Sorge um mich echt?, fragte er sich. Oder spielt sie wieder mit mir?
»Squirrel sagte mir, die Bibliothek habe uns alle Schlüssel zu diesem Raum ausgehändigt. Wie kommt Lessing auf die Idee, dir…«
»Der Librarian hat noch einen. Lessing wollte sich den Schlüssel von ihm holen. Außerdem habe ich ihm erzählt, dass ich hier gefangen gehalten werde.«
»Das hättest du lieber bleiben lassen sollen.«
»Was soll das heißen?«, empörte sich Tim. Er spürte, wie Zorn und Verzweiflung ihn zu überwältigen drohten. »Haben eure Men in Black ihn umgebracht, damit die Eule mich weiter als Geisel halten kann?«
Sie schnappte nach Luft. »Wieso dämonisierst du eigentlich ständig die NSA und meinen Chef? Du hast in Cambridge am eigenen Leib erlebt, wie dieses Spiel gespielt wird. Die Welt trudelt in einen scheinbar bodenlosen Abgrund. Unser Gegner
– meinetwegen nennen wir ihn Aliat Mansube – beherrscht alle Kniffe, um die vernetzte Gesellschaft gegen sich selbst auszuspielen. Vielleicht haben die Meister des Endspiels Lessings Telefon angezapft oder das des Librarians. Einer der beiden könnte deine Geschichte in einer E-Mail verbreitet haben, die von einem Schnüffelprogramm abgefangen und unserem Feind zugespielt wurde. Es gibt tausend Erklärungen für das, was gerade passiert ist, aber dir fällt immer nur das Gleiche ein.«
Jamilas Erregung traf Tim mehr als ihre Worte. Mit ihrer Umarmung am Morgen hatte sie bei ihm ein Bedürfnis geweckt, den Wunsch nach Harmonie. Er wollte sie nicht reizen, sie nicht gegen sich aufbringen, sondern sie möglichst bald wieder festhalten. Zerknirscht ließ er den Kopf hängen und erklärte kleinlaut: »Die Nachricht von Lessings Tod hat mich verwirrt.«
Er spürte, wie sich ihre Hand auf seine Schulter legte. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte Jamila an sich gedrückt, doch dazu fehlte ihm der Mut, also seufzte er nur.
»Ich war bei Owl«, hörte er sie sagen.
»Und?«
»Wenn er oder jemand in der NSA Lessings Tod veranlasst hätte, dann müsstest du hier schmoren, bis du die Lösung für das Blatt I vorlegst, richtig?«
Tim antwortete nicht, weil ihr Argument ihm nicht schlüssig erschien, er sie aber nicht erneut verärgern wollte.
Jamila lächelte. »Owl findet deinen Vorschlag ›konstruktiv‹. Genau so hat er sich ausgedrückt. ›Wenn es dem Wunderkind zum Durchbruch verhilft, dann soll es seine Privatführung durch die Gruft bekommen‹, hat er gesagt. Ohne Schutz durch andere Agenten will er uns allerdings nicht gehen lassen, und anschließend sollst du auch wieder hierher zurückkehren.«
»Als willfähriger Rechenknecht?«
Ihre Augen betrachteten sein dunkles Haar, während sie mit der Hand darüberstrich. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, als der Mann, der nichts vergessen kann.«
Die US-Amerikaner besitzen eine Affinität für Abkürzungen.
Weihnachten ist für sie Xmas, ein britischer Secret-Service-Mitarbeiter mit den Initialen J. B. sowie einer Lizenz zum Töten heißt schlicht 007, und BWI steht für den »Baltimore/Washington International Thurgood Marshall Airport«. Letzterer liegt nicht ganz fünfzig Kilometer nördlich von Washington D. C. sechzehn Kilometer südlich von Baltimore und nur dreizehn Kilometer nordöstlich von Crypto City, dem Hauptquartier der weltgrößten Lauschbehörde.
Wegen dieser zentralen Lage fühlen sich hier nicht nur die Billig-Airlines zu Hause, sondern auch die NSA-Mitarbeiter.
Neun von zehn ihrer Dienstflüge beginnen oder enden auf dem BWI.
Hierhin war am Samstagmittag auch Tim mit Jamila und seinen zwei Bodyguards gefahren. Die Pilotin hatte ihre männlichen Begleiter in eine Lounge geschickt und war hinaus aufs Flugfeld gegangen. Dort inspizierte sie jetzt den Learjet der National Security Agency, den man ihr für den Flug nach New Haven zugeteilt hatte. Der
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