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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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in der Umarmung doch zugleich auch ein Vertrauensbeweis war, wie einen bittersüßen Saft aufsaugte, da er den Duft ihres Haars bis in die Lungenbläschen hinein atmete, wo er direkt in sein wallendes Blut überging, da er ihren warmen Atem prickelnd am Ohr spürte…
    »Owl gibt mir auch viele Rätsel auf. Aber das muss nicht heißen, dass er mich für irgendwelche dunklen Machenschaften benutzt. In deiner Tasche steckt ein USB-Stick. Er hat Karim gehört. Wenn du ihn entschlüsseln kannst, findest du vielleicht die Antworten, die wir brauchen.«
    Was Tim da gerade leise wie einen Windhauch vernommen hatte, ließ ihn jäh versteinern. Hatte Jamila alles nur gespielt?
    Jedenfalls konnten ihre Worte nur eines bedeuten: Sie wusste oder rechnete zumindest damit, dass die Räume verwanzt waren. Wurden sie belauscht? Hatte am Ende die Eule ihre bühnenreife Vorstellung gesehen… ?
    Als sie sich wieder von ihm löste, sah sie beschämt zu Boden und murmelte: »Entschuldige, meine Nerven sind mit mir durchgegangen.«
    Er starrte sie schwer atmend an und brachte unter Aufwendung aller Kraft gerade zwei Worte heraus. »Schon gut.«
    Sie drehte sich um, ging zum Sessel zurück, nahm das Buch in die Hand, und als sie sich gerade setzen wollte, hatte Tim seine Sprache wiedergefunden.
    »Ich würde mir gerne die Gruft von Skull and Bones ansehen.«
    Jamila verharrte mitten in der Bewegung, ein, zwei Sekunden lang, dann wandte sie sich wieder zu ihm um. »Was möchtest du?«
    In Anbetracht etwaiger Mikrofone und Kameras hob er die Schultern und gab sich cool. »Nur mit dir nach New Haven fliegen und einen Blick in euer Vereinshaus werfen. Ich will ja nicht angeben, aber mein Gespür für Zusammenhänge ist vermutlich einmalig auf der Welt. Sonst hättet ihr mich wohl kaum für diesen Job ausgesucht. Vielleicht sehe ich im Tempel etwas, das dir bisher entgangen ist.«
    Sie funkelte ihn aus ihren Jadeaugen an und nickte schließlich. »Na schön. Ich spreche mit Owl. Wenn er uns grünes Licht gibt, dann fliegen wir nach Connecticut und brechen in die Gruft ein.«
    Tim horchte auf, wie er es immer tat, wenn das Summen des Schlosses ihm die Ankunft eines Besuchers ankündigte. Er sah auf seine Armbanduhr. Kurz nach fünf. Ob es Lessing war mit einer guten Nachricht von seinem Chef?
    Die Tür wurde aufgerissen. Für einen Moment sah Tim draußen im Korridor aufgeregt umherlaufende Menschen, drei Polizisten in schwarzen Uniformen und zwei Rettungssanitäter, die eine Trage auf Rollen zwischen sich her schoben. Jamila stürzte in den Raum. Sie hatte für Tim eigentlich einen »Nachschlag« von der Buchausgabe holen sollen, doch ihre Hände waren leer. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich Bestürzung. Ehe sie am Schreibtisch war, hatte Knight das Büro auch schon wieder verschlossen. Sie stützte sich mit gespreizten Armen vor Tim auf die Arbeitsplatte, und ihr Blick bohrte sich förmlich in sein Gesicht. Was sie ihm mitzuteilen hatte, versetzte ihm einen Schock.
    »Der Bibliothekar ist tot.«
    Er sprang aus dem Sessel hoch. »Was? Redest du von unserem Bibliothekar, von Dr. Lessing?«
    Sie deutete zur Nebentür. »Dahinter liegt der Ostkorridor.
    Durch einen Aufgang gelangt man ins Obergeschoss. Wenn die Wände nicht so dick wären, hättest du vor ein paar Minuten Lessings Schrei hören müssen. Er wurde auf dem Boden des Treppenhauses gefunden. Mit gebrochenem Genick. Unter dem Schriftzug ›Wissen ist Macht‹.«
    »Sir Francis Bacon. De Haeresibus«, murmelte Tim zwanghaft. Er blickte mit entsetzensweiten Augen über den Schreibtisch, sah Jamila aber trotzdem nicht. Durch seinen Geist wehten Lessings verdrießliche Worte: Sie bringen mich in Teufels Küche, Doktor. Und ebenso die eigene Antwort, die er jetzt wie in Trance wisperte: »Einen Tod muss jeder sterben.« Er schloss die Augen, so fest es ging, wollte den Albtraum verjagen, redete aber nur weiter, was durch seinen Kopf wirbelte. »Für den armen Lessing war Wissen tödlich.«
    Jamilas Stimme wurde eindringlich. »Hast du ihm irgendetwas über unser Projekt erzählt?«
    Er riss die Augen auf, blickte aber nur erneut durch sie hindurch. Die schreckliche Nachricht hatte seinen Verstand in ein Paralleluniversum katapultiert, weit, weit weg von ihr.

    Sie hieb mit der Faust auf die Tischplatte. »Tim! Wach auf! Warum hast du das eben gesagt? Was hat Lessing gewusst?«
    Es dauerte eine Weile, bis sein Geist sich wieder im Librarian’s Room befand. Er deutete zur Nebentür nach

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