Der Mann, der sich in Luft auflöste
dem linken Handrücken leicht über die Brust. Martin Beck drehte sich um und ging.
9
Die Halle war leer. Auf einem Regal hinter dem Tisch, der als Empfangstresen diente, lag ein kleiner Stapel Pässe. Der oberste war ein finnischer, aber darunter lagen zwei von der typischen moosgrünen Farbe. Martin Beck streckte im Vorübergehen unauffällig die Hand danach aus und griff sich einen davon. Er schlug ihn auf, und der Mann, dem er auf der Schwelle zu Ari Boecks Zimmer begegnet war, starrte ihm mit glasigem Blick entgegen. Tetz Radeberger, Reisebüroangestellter, Hamburg, geboren 1935. Offensichtlich keiner, der sich die Mühe machte, ihn anzulügen.
Auf der Rückfahrt hatte er das Pech, auf einem schnellen Zubringerboot mit überbautem Deck und brummendem Dieselmotor zu landen. Es gab nur wenige andere Passagiere auf dieser Fahrt: Ihm am nächsten saßen ein paar alte Frauen mit farbenfrohen Kopftüchern und bunten Trachten.
Sie hatten große weiße Bündel dabei und kamen vermutlich vom Land.
Weiter hinten im Salon saß ein ernster Mann mittleren Alters mit braunem Filzhut, Aktentasche und Beamtenmiene. Ein großer Mann in blauem Anzug schnitzte träge an einem Holzstöckchen. Direkt an der Tür zur Gangway stand ein Polizist in Uniform. Er aß Kringel aus einer Papiertüte und unterhielt sich beiläufig mit einem kleinen, sehr gut gekleideten Mann mit Glatze und schmalem schwarzem Schnurrbart. Ein junges Paar mit zwei niedlichen Kindern vervollständigte die Sammlung.
Martin Beck musterte seine Mitreisenden finster. Seine Expedition war missglückt. Nichts deutete darauf hin, dass Ari Boeck nicht die Wahrheit gesagt hatte.
Im Stillen verfluchte er den seltsamen Impuls, der ihn verleitet hatte, diesen sinnlosen Auftrag zu übernehmen. Seine Möglichkeiten, den Fall zu lösen, schienen immer geringer zu werden. Er war allein und hatte keine Ideen. Und hätte er Ideen gehabt, hätten ihm die Mittel gefehlt, sie umzusetzen. Am allerschlimmsten war, insgeheim zu wissen, dass ihn überhaupt kein Impuls geleitet hatte. Vielmehr war lediglich seine Polizistenseele, oder wie man das nennen wollte, angestachelt worden.
Derselbe Trieb, der Kollberg veranlasst hatte, seine Freizeit zu opfern.
Eine Art Berufskrankheit, die ihn zwang, alle möglichen Fälle zu übernehmen und sein Bestes zu tun, um sie zu lösen.
Als er ins Hotel zurückkam, war es Viertel nach vier, und das Restaurant war geschlossen. Er hatte das Mittagessen verpasst. Er ging auf sein Zimmer, duschte und zog den Morgenrock an. Aus der Flasche, die er im Flugzeug gekauft hatte, trank er einen Schluck Whisky. Er fand den Geschmack roh und widerlich, ging in die Toilette und putzte sich die Zähne. Dann lehnte er sich aus dem Fenster, stützte die Ellbogen auf das breite Fensterbrett und beobachtete die Schiffe. Nicht einmal das machte ihm sonderlich Spaß. Direkt unter ihm auf der Terrasse saß einer der Passagiere vom Fährschiff, der Mann in dem blauen Anzug. Er hatte ein Glas Bier vor sich auf dem Tisch und schnitzte noch immer an seinem Stöckchen. Martin Beck runzelte die Augenbrauen und legte sich auf das knarrende Bett. Er dachte erneut über seine Situation nach. Früher oder später würde er Kontakt zur Polizei aufnehmen müssen. Ein bedenklicher Schritt, den keiner gutheißen würde, im Moment nicht einmal er selbst.
Die Zeit bis zum Abendessen vertrieb er sich damit, faul in einem Sessel in der Lobby zu sitzen. Am anderen Ende der Halle las ein Mann mit graumelierten Haaren und Siegelring eine ungarische Zeitung. Es war derselbe Mann, der ihn beim Frühstück im Speisesaal angestarrt hatte.
Martin Beck beobachtete ihn lange, aber der Mann trank in aller Ruhe seinen Kaffee und schien sich seiner Umgebung gar nicht bewusst zu sein. Martin Beck aß Champignonsuppe und einen barschähnlichen Fisch aus dem Balaton und spülte ihn glücklich mit Weißwein hinunter. Die Musik spielte Liszt und Strauß und diverse andere Stücke aus der hohen Schule. Das Essen war superb, machte ihn aber nicht froher, und die Keller schwärmten um den düsteren Gast herum wie Medizinprofessoren um das Krankenbett eines Diktators.
Kaffee und Kognak nahm er in der Lobby ein. Dort las der Mann mit dem Siegelring noch immer seine Zeitung. Wieder stand ein Glas Kaffee vor ihm. Nach ein paar Minuten schaute der Mann auf die Uhr, warf Martin Beck einen flüchtigen Blick zu, legte seine Zeitung zusammen und durchquerte die Halle. Es sollte Martin Beck erspart bleiben,
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