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Der Mann, der starb wie ein Lachs

Der Mann, der starb wie ein Lachs

Titel: Der Mann, der starb wie ein Lachs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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sollte sie wieder am Lidingöl-Lauf teilnehmen. Sie spürte den Rausch. Den Laufrausch. Den Genuss der Gazelle, die langen Muskelfasern, die sie vom Boden abheben ließen. Der Stoß, der kurze Erdkontakt vor dem nächsten Bogen. Wenn man lief, befand man sich mehr in der Luft als auf dem Boden. Es ging ums Fliegen. Bei den besten Läufen erlebte sie ein fast schwebendes Gefühl. Der Boden rollte unter ihr hinweg, sie selbst war ruhig, während die Füße da unten die Erde streiften, nur leicht, ganz leicht. Sie suchten Halt, sie wollten dort bleiben, aber sie riss sie immer wieder von der Erdanziehungskraft los. Ein Akt der Freiheit. Ein Rausch.
    Vor ein paar Jahren hatte sie Probleme mit den Fußgelenken gehabt. Besonders nach längeren Strecken blieb ein Unheil verkündender Schmerz, ein Reiben, das sich fast wie Rheuma anfühlte. Torbjörn von »Friskis & Svettis« hatte ihren Fußansatz auf einem Laufband gefilmt und war zu dem Schluss gekommen, dass es an einer Pronation lag. Sie kaufte sich andere Schuhe und versuchte die Füße in einem anderen Winkel anzusetzen, doch es nützte nichts.
    Schließlich, aus reiner Verzweiflung, machte sie es genau umgekehrt. Während eines regnerischen Zwanzig-Kilometer-Laufs, die Regenwürmer hatten wie violette kleine Gedärme auf der Laufstrecke gelegen. Sie hörte auf, an die Füße zu denken. Ließ den Beinen einfach freies Spiel, durch das Knie bis hinunter zum Knöchel, so dass die Fußsohle sich entspannen konnte.
    Kein Gedanke mehr an Winkel und den richtigen Fußansatz. Einfach gehen lassen, in gewisser Weise in sich hineinlauschen. Was wollt ihr, Füße? Wie wollen wir das hier machen? Voller Erwartung spürte sie, wie das Gleichgewicht wiederkam. Die Fußgelenke stellten sich ganz automatisch ein, und gleichzeitig ließ der Schmerz nach. Mit jedem Schritt wurde er weniger, bis der Schmerz bald vollständig verschwunden war.
    Man sollte aufhören zu denken. Loslassen. Der Körper wusste selbst, wie er laufen sollte.
    Mit Papa. Hier hätte sie mit Papa laufen sollen.
    Diese Sehnsucht tauchte ab und zu auf. Nicht häufig im Alltag, da gab es so vieles andere, aber manchmal beim Laufen. Wenn der Körper beschäftigt war, hatten die Gedanken freie Bahn. Das Blut strömte, und das Gehirn wurde von Sauerstoff durchspült. Dann konnten Bilder auftauchen. Alte Erinnerungen.
    Papa war in seiner Jugend Sportler gewesen. Ein vielversprechender Mittelstreckenläufer im Spårvägens FK, mit mehreren Clubmeisterschaftsmedaillen. Es gab ein Foto aus dem Stockholmer Stadion, ein Juniorenwettkampf Anfang der Sechziger. Papa läuft mit wehendem Haar, die Oberlippe über die Zähne hochgezogen, das linke Knie hoch in der Luft. Es ist ein Spurtduell, ein langgezogener Spurt, den er verlieren wird. Aber das Foto ist schön. Ein bisschen wie Anders Gärderud, die gleiche sehnige Körperhaltung. Und dann in diesem Stadion. Sie erinnerte sich daran, wie sie dort selbst bei ihrem ersten Stockholm-Marathon ins Ziel lief, wie sie sich durch die gleiche Kurve kämpfte. Hier ist Papa gelaufen, hatte sie gedacht. Genau hier!
    Oft stellte sie sich vor, wie sie zusammen liefen. Sie und ihr Vater. Hier am Djurgårdsbrunnskanal, unter den Ebereschen und Ulmen, er in einem gewissen Alter, aber immer noch durchtrainiert, kein Bierbauch, die Haare lang und nach hinten gekämmt, aber dünner. Er setzt sich an die Spitze, wie immer. Der alte Wettkampfinstinkt. Biegt auf kleinere Wege ab, sie folgt ihm dicht auf den Fersen. Und dann zieht er an. Der letzte Kilometer. Wie er es auch vor zehn Jahren getan hat, auf dem letzten Stück sprintet er los. Der Abstand vergrößert sich spielend leicht, und im Ziel steht er, wartet und dehnt sich ein wenig, keucht kaum.
    Aber an diesem Tag, genau an diesem klaren Herbsttag, siegt sie gegen ihn. Schließt Stück für Stück die Lücke. Er schielt zurück über die Schulter und wird wie gewöhnlich schneller. Jetzt hat er das Maximum erreicht, jetzt läuft er davon. Unerreichbar. Doch es gelingt ihm nur für eine Weile, die Geschwindigkeit zu halten. Und langsam holt sie ihn ein, dehnt die Schritte bis zum Äußersten. Heftet sich an ihn. Erreicht den Rücken. Eine Kurve ist noch übrig. Eine letzte Kurve vor dem Parkplatz. Und da schließt sie mit ihm auf. Es ist das erste Mal, das ist noch nie vorgekommen. Sie drückt sich an die Außenseite und schließt zu ihrem Vater auf. Eine Weile kämpfen sie Seite an Seite mit hochgezogenen Knien, und dann zieht sie vorbei.

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