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Der Mann, der starb wie ein Lachs

Der Mann, der starb wie ein Lachs

Titel: Der Mann, der starb wie ein Lachs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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    HANS-OVE: Ich habe ein Alibi. Ihr habt das ja schon überprüft.
    SONNY: Ja, ich weiß.
    HANS-OVE: Komm jetzt, David.
     
    Sonny schaltete das Aufnahmegerät ab und lehnte sich auf seinem Bürostuhl zurück. Verschränkte die Hände im Nacken, bog die Ellbogen nach hinten. Nicht genug Polizisten. Jaja, hm, hm … Und wenn es sein eigenes Kind gewesen wäre? Und wenn Martin Udde noch weiter gegangen war? Wenn er angefangen hatte, Thailand zu spielen, hier in Pajala? Der Gedanke war wie Eis, Sonny spürte eine stechende Kälte. Hausbesuch. Das könnte ein Hausbesuch mit Dienstwaffe außerhalb der Arbeitszeit gewesen sein. Oder mit Lachsspeer. Vielleicht einfach mit einem Lachsspeer.
     

31
     
    Langsam schlenderten sie zwischen den Schmuckvitrinen hin und her. Ende November hatte Therese Geburtstag, und sie ahnte die Hintergedanken ihrer Mutter. Das jährliche Mutter-Tochter-Ritual. Sie blieben stehen und wiesen sich auf bestimmte Dinge hin, und Therese versuchte, ganz feine Andeutungen zu machen. Der Armreif in Weißgold mit frecher, graffitiinspirierter Gravur. Oder ein Ring von Rauff in kantig gedrehtem Sterlingsilber. Die Mutter blieb bei Kalevala mit seinen archaischen Reliefs stehen und ging dann weiter zu den Zürbickbroschen mit ihrem Stacheldraht aus Gold, die wie bewaffnete Schmetterlinge aus dem Kalten Krieg daherkamen.
    »Ich habe Großmutter wieder besucht«, erwähnte Therese wie nebenbei.
    Die Mutter schien es nicht gehört zu haben. Doch ihre Halssehnen spannten sich wie die eines Vogels. Eines Flugsauriers. Es war der falsche Zeitpunkt. Aber es kam eigentlich nie der richtige. Therese schluckte, versuchte ihre Stimme so sanft wie möglich klingen zu lassen.
    »Warum hat sie dich eigentlich weggegeben?«
    »Aber ich habe dich nicht weggegeben«, konterte die Mutter blitzschnell.
    »Nein, aber …«
    »Ich habe dich behalten, Therese. Mama hat mich nicht behalten, aber ich habe dich behalten.«
    Ihre Mutter verstummte verärgert und beugte sich über eine Vitrine, so nah, dass das Glas von ihrem Atem beschlug. Doch, dachte Therese. Sie hätte dich behalten können. Aber sie wollte nicht. Sie wollte dich nicht haben.
    Therese zog sich den Mantel aus und probierte eine schwere Halskette an. Das kalte Metall auf der weichen, heißen Haut. Die Mutter stand schräg hinter ihr, und plötzlich streckte sie die Finger aus und drückte den Kragen hinunter. Der Blusenstoff war leicht und weiß und in der grellen Ladenbeleuchtung fast durchsichtig. Therese drehte sich schnell um. Gab die Kette der Verkäuferin zurück, zog sich den Mantel an und hustete verstohlen. Mutter hatte sie nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen. Sie gingen auf steifen Beinen hinaus. Verkehrslärm schlug ihnen entgegen, ein Überlandbus bretterte mit einem gehörigen Schuss Methanol an ihnen vorbei.
    »Ein Bambi!«, rief ihre Mutter aus.
    »Du irrst dich«, protestierte Therese.
    Es war eng auf dem Bürgersteig. Ein magerer Trenchcoatvater schob einen Kinderwagen mit einem lethargischen, asiatisch aussehenden Mädchen darin, das einen blauen Luftballon umklammerte. Als sie vorbeigingen, explodierte der Ballon, der offensichtlich gegen etwas Spitzes in der Kleidung der Mutter gekommen war. Diese registrierte es, blieb aber nicht stehen.
    »Ein kleines Bambi bei einer erwachsenen Frau!«
    »Du irrst dich«, wiederholte Therese.
    »Ist das echt?«
    »Ja.«
    »Wie abscheulich!«, rief die Mutter aus. »Vollkommen abscheulich! Lässt dich von Leuten mit Nadeln bekritzeln.«
    Therese versuchte ruhig zu bleiben, doch ihr Puls hämmerte. Sie durfte nicht wieder vierzehn werden. Nicht jetzt.
    »Das ist kein Bambi, Mama. Das ist ein Rentier.«
    »Ein Rentier?«
    »Ja, genau, ein Rentier.«
    »Aber warum? Warum in Herrgotts Namen?«
    Ja, was sollte man darauf antworten? Eine Treppe führte hinunter zur Untergrundbahn. Therese blieb stehen, während ihre Mutter weiterging. Ein steter Menschenstrom ergoss sich aus der Unterwelt. Wie Flüchtlingsmassen, dachte Therese, Erdbebenopfer. Die Mutter stieß heftig mit einem Mann zusammen, der das Gesicht verzog und sich den Ellbogen hielt. Er blieb stehen, direkt vor Therese. Sah sie an. Schloss die Augen. Schaute wieder.
    »Verdammte Scheiße«, murmelte er.
    »Lass es«, flüsterte sie.
    Es war Esaias.
     

III
     

32
     
    Am 21. Februar 1808, einem froststarren, besonders schönen Wintermorgen, setzte sich die russische Armee unter General Fredrik Wilhelm von Buxhövden in Bewegung und

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