Der Mann, der wirklich liebte
Sie standen an der Brüstung des Balkons, unten lärmte die Band, und die Lichtreflexe zauberten eine irreale Stimmung. Röhrdanz sah zuckende Köpfe, tanzende Leiber, er hörte das enthemmte Grölen der jungen Leute um sich herum. Hier gehöre ich nicht hin, dachte er, bis er sah, dass Angela auch nicht tanzte. Sie stand genauso still da wie er, ihr blondes Haar glänzte im Schweinwerferlicht auf, und ihr Gesichtsausdruck war ernst.
Als sie seinen Blick auffing, wandte sie sich verlegen ab und schaute wieder zur Bühne.
Er stand ganz dicht neben ihr, nahm seinen ganzen Mut zusammen und streifte wie zufällig ihre Hand. Er
zählte die Sekunden. Wann würde sie sich seiner Berührung entziehen?
Der lange Lulatsch hampelte und sang. Machte sich zum Affen. Das war doch überhaupt kein Mann für sie! Und er, Röhrdanz? Machte er sich etwa nicht zum Affen? War er ein Mann für sie?
Auf jeden Fall ein Mann. Und kein Hampelmann.
Plötzlich drehte sie sich zu ihm herum und hob ihre Hand.
Würde sie ihm eine knallen? Das wäre vielleicht das Beste für ihn. Dann würde er unsanft in die Wirklichkeit zurückgeholt.
Sanft, ganz sanft, strich sie ihm über die Wange.
Er schmiegte sein Gesicht an ihre Hand. Das fühlte sich gut an. Gut und richtig. Mein Gott, hier gehörte er hin! Sie verschränkten ihre Hände und schauten sich ganz tief in die Augen. Die zuckenden Menschenmassen um sie herum verschwammen zu einer unwirklichen Kulisse. Sie schienen ganz allein auf der Welt zu sein. Seligkeit überkam ihn. Sein Herz zog sich in süßem Schmerz zusammen, bevor es tausend Purzelbäume schlug. Er war verliebt! Es hatte ihn richtig erwischt! Sie hielt seinem Blick stand, in ihren Augen war beglückte Verwunderung zu lesen: So also fühlt sich Liebe an?
Am liebsten hätte er sie geküsst, aber er wollte den Jungen nicht vor den Kopf stoßen, Angela nicht in eine peinliche Situation bringen. Trotz seiner Gefühle siegte sein erwachsener Verstand. Jetzt nicht, Röhrdanz. Gut Ding will Weile haben. Ihre Zeit würde noch kommen.
Sie würden sich küssen. Bald. Allein.
A m Sonntag war es dann so weit. Röhrdanz hatte Angela auf einen Spaziergang eingeladen. Und er wusste auch schon einen wirklich romantischen Ort: Schloss Burg.
Die mittelalterliche Anlage auf einem recht imposanten Hügel hoch über der Wupper war über einen Sessellift zu erreichen.
Die Sommersonne schien warm vom blauen Himmel herab, als sie gemeinsam emporschwebten. Sie kuschelten sich ganz eng aneinander, ihre Knie berührten sich. Angela trug einen fast durchsichtigen, langen braunen Rock, der im Sommerwind flatterte und durch den er die Umrisse ihrer Beine erkennen konnte. Dazu eine passende Bluse, die ihre zarte Figur noch unterstrich. Alles an ihr war so filigran und zerbrechlich wie bei einem kleinen Schmetterling. Man musste aufpassen, dass man ihn behutsam behandelte. Sonst flog er noch weg, oder man würde ihn beschädigen. Dann würde er nicht mehr fliegen können. Aber jetzt flogen sie! Alle beide! In Zeitlupe zwar, aber …
Obwohl die Fahrt in dem altmodischen Sessellift nur wenige Minuten dauerte, kostete Röhrdanz diesen Moment voll und ganz aus. Der Sommerwind strich über seine Haut, und eine nie gekannte Sehnsucht nach Glück und Geborgenheit überkam ihn. Sein Magen zog sich fast schmerzhaft zusammen. Dass Verliebtsein so was Herrliches sein konnte! Natürlich hatte er Irene auch einmal attraktiv gefunden und war irgendwie stolz an ihrer Seite gewesen. Aber ihre Gefühlskälte und Sucht nach materiellen Dingen hatten sein Herz so schnell schrumpfen
lassen, als hätte man es in die Tiefkühltruhe gelegt. Schon lange hatte er keine solchen Gefühle mehr für irgendjemanden gehegt. Für seine Söhne Christian und Oliver vielleicht, aber das waren Vater-Gefühle.
Außerdem musste er zurzeit dauernd darum kämpfen, die beiden besuchen zu dürfen. Irene benutzte die Kinder als Druckmittel gegen ihren Ex. Wie oft war er schon die zweihundert Kilometer nach Mannheim gefahren, um seine Jungs für ein paar Stunden zu sehen. Irene hatte sich dort von ihrem gemeinsamen Lottogewinn ein Einfamilienhaus gekauft, und er hatte darauf bestanden, dass die Söhne im Grundbuch eingetragen wurden. Er selbst hatte keinen Pfennig von dem Geld haben wollen. Und wie oft hatte er - trotz vorheriger schriftlicher Verabredung - vor verschlossenen Türen gestanden. Das alles hatte sich nicht gerade positiv auf sein Frauenbild ausgewirkt.
Bis er Angela traf. Wie ein
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