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Der Mann, der wirklich liebte

Der Mann, der wirklich liebte

Titel: Der Mann, der wirklich liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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kommt immer zu kurz. Während er sie eine Spur zu fest an sich drückte, versuchte er, den nackten Philip daran zu hindern, schreiend wegzulaufen. Er würde in der Küche noch lauter brüllen als hier!
    »He! Hiergeblieben! Was sollen denn die Nachbarn von uns denken? Dass ich euch nicht im Griff habe oder was? Die olle Frau Seidl klopft gleich wieder an die Decke …«
    In seiner Not versperrte er dem Kleinen mit seinem Bein den Weg. Daraufhin fiel dieser der Länge nach auf die Badezimmerkacheln und schlug sich die Stirn auf.
    »Oliver!, brüllte Röhrdanz in letzter Not. »Komm sofort her!«
    Olivers erster Gang war in die Küche gewesen, und nun stand er im Flur, leichenblass. Röhrdanz sah die vor Entsetzen geweiteten Augen seines Sohnes im Flurspiegel. Oliver starrte auf Angela im Rollstuhl. Er wollte schreien, aber es kam kein Laut über seine Lippen.
    »Was ist?«, stieß Röhrdanz verzweifelt hervor. Er stolperte über seine kleinen Söhne und riss sich von der klammernden Denise los. Alle drei brüllten wie am Spieß.
    Drei Schritte durch den Flur bis in die Küche. Der Garderobenständer
fiel um. Jacken, Mützen und Mäntel, die Kindergartentaschen - alles landete auf dem Parkett.
    Angela saß mit einem rotblau angelaufenem Gesicht im Rollstuhl und starrte hilflos an die Decke. Sie gab ein würgendes Geräusch von sich, und ihr Gesichtsausdruck war so fassungslos, so ungläubig, dass er sie in Gedanken fragen hörte: »Nach allem, was war, lässt du mich jetzt hier verrecken?«
    Das Fleisch, durchzuckte es Röhrdanz. Das Gulasch. Das letzte Stückchen.
    Die Adern an ihrem Hals traten deutlich hervor. Sie rang verzweifelt nach Luft, schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen.
    Röhrdanz fühlte eine plötzliche Taubheit in den Gliedern, nahm alles um sich herum wie in Zeitlupe wahr. Das Schreien seiner drei Kinder. Der entsetzte Blick Olivers. Und die nackte Todesangst in den Augen seiner Frau. Minuten schienen zu vergehen, bis er einen klaren Gedanken fassen konnte. Sie erstickt, ging es ihm durch den Kopf.
    Mit einem Schlag hörten alle drei Kinder auf zu schreien. In der plötzlichen Stille hörte man nur noch die Küchenuhr ticken.
    Mit zwei Schritten war Röhrdanz bei Angela, riss sie aus dem Rollstuhl und versuchte, sie zum Erbrechen zu bringen. In nackter Verzweiflung hieb Röhrdanz auf Angelas Rücken ein.
    »Nicht! Nicht sterben! Spuck es aus, um Gottes willen, spuck es aus!«
    Oliver hatte sich gefangen, riss die schwere Frau hoch,
schlang ihren Arm um seine Schulter. In hilfloser Panik schlug er der Halbtoten ebenfalls auf den Rücken. Vergeblich. Ihr Gesicht wurde dunkelviolett. Die Augen quollen ihr immer mehr aus dem Kopf.
    »Sie stirbt. Papa, sie stirbt!!«
    Zu seinem Entsetzen nahm Röhrdanz aus dem Augenwinkel wahr, dass die Kinder mit weit aufgerissenen Mündern in der Küchentür standen und die Mutter bei ihrem verzweifelten Todeskampf beobachteten.
    Röhrdanz taumelte auf allen vieren zur Wohnungstür, riss sie verzweifelt auf und brüllte ins Treppenhaus: »Hilfe! Meine Frau erstickt! Hilfe!«
    Da unten wohnt doch eine Krankenschwester, fiel es ihm siedend heiß ein. Die grüßt zwar nie, aber sie wird uns helfen … »Hilfe, ein Notfall! Meine Frau bekommt keine Luft mehr!!«
    Als sich nichts tat und noch nicht mal ein Licht anging, schlug er mit der Faust auf den Lichtschalter im Treppenhaus, flog auf zitternden Beinen die Treppen hinunter, hämmerte an jede Wohnungstür: »Aufmachen! Hilfe! Meine Frau erstickt!«
    Das ist der Albtraum, ging es ihm durch den Kopf, lieber Gott, mach, dass ich das nur träume.
    Nichts rührte sich. In allen vier Stockwerken blieben die Wohnungstüren verschlossen. Immer wieder ging das Licht aus, und Röhrdanz tastete sich im Dunkeln weiter durchs Treppenhaus, bis er wieder laut weinend auf einen Lichtschalter einschlug.
    »Hilfe«, flehte er tonlos, »sie stirbt mir! Sie stirbt mir unter den Händen weg!«

    Anschließend hörte er nur noch seinen keuchenden Atem.
    Angela war ihm elendig verreckt. Nach allem, was er für sie getan hatte. Nach tausend schlaflosen Nächten, nach hunderttausend heimlich geweinten Tränen, nach unendlichen Mühen und Qualen, nach unzähligen Gebeten, die er in seiner Verzweiflung gen Himmel geschickt hatte.
    Lieber Gott, das hast du mir nicht angetan.
    Seine Beine waren taub. Er würde nie wieder aufstehen können. Nie mehr die vier Treppen nach oben schaffen. Nie mehr auch nur einen Handgriff da oben in diesem

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