Der Mann, der zweimal starb Kommissar Morry
trommle die ganze Nachbarschaft zusammen, wenn du nicht sofort weggehst. Ich zähle bis drei.“
Ein heiseres Grollen kam durch die Tür. Ein paar dumpfe Schläge prasselten an das Holz. Heftig wurde an der Klinke gerüttelt. Aber dann entfernten sich die Schritte so plötzlich, wie sie gekommen waren.
Es wurde wieder still in der Wohnung. Ganz still, als sei nichts geschehen.
Evelyn Bloom ließ das Fenster offen stehen, obwohl ihr die kalte Nachtluft einen Schauer nach dem ändern über den Rücken jagte. Sie fror bis ins Mark.
Dennoch wagte sie nicht mehr, ins Bett zu gehen. Sie blieb zusammengekauert am Tisch sitzen. Bleich und erschöpft harrte sie dem Morgen entgegen.
5
Es war kaum hell draußen vor den Fenstern, da stand Evelyn Bloom vom Tisch auf, zog ihren Mantel an und nahm ihre Stadttasche aus dem Schrank. Es war sieben Uhr morgens. Viel zu früh eigentlich zum Weggehen. Die Geschäfte, die Läden und Imbißstuben hatten noch geschlossen. Auch im Haus war noch alles still. Man hörte kaum einen Laut. Ich halte es hier nicht mehr aus, dachte Evelyn Bloom unruhig. Ich werde auch nicht mehr hierher zurückkehren. Ich könnte keine zweite Nacht wie diese erleben. Lieber bleibe ich in einem Obdachlosenasyl. Sie verließ die Wohnung und ging die Treppe hinunter. Das Hausmeisterehepaar rief ihr ein paar abfällige Worte nach. Sie kümmerte sich nicht darum, da sie mit ihren Gedanken schon weit von diesem Haus entfernt war. Sie ging die Richmond Ave hinunter, ohne sich noch einmal umzudrehen. Geistesabwesend und wie eine aufgezogene Puppe wanderte sie auf die Kings Croß Station zu. Sie fand ein Automatenbüfett, das um diese Stunde schon geöffnet hatte. Hastig trat sie ein. Scheu verkroch sie sich in die hinterste Ecke. Sie ließ sich einen heißen Kaffee bringen. Das Getränk tat ihr gut. Die Starre in ihren Gliedern löste sich. Die Kälteschauer verflogen. Sie fühlte sich wieder mutiger und zuversichtlicher als zuvor. Sie aß ein Sandwich und rauchte dann eine Zigarette. Die Leute an den anderen Tischen ließen sie kalt. Sie beachtete niemand. Sie dachte nach und überlegte, wohin sie nun ihre Schritte lenken sollte.
Ich werde zu den Freunden Joseph Hattans gehen, sinnierte sie. Was riskiere ich schon dabei. Mein Ruf kann nicht mehr schlechter werden. Ich suche sie heute Abend in der Sidney Bar auf und frage sie nach Joseph Hattan. Sie müssen wissen, was aus ihm geworden ist. Sie werden mir sagen können, ob er heute Nacht wirklich vor meiner Tür stand, oder ob ich mich von einem Gespenst narren ließ. Ich muß endlich Gewißheit haben. Lieber eine schreckliche Wahrheit, als diese zermürbenden Zweifel. Sie verbrachte den Tag in den Geschäften der Innenstadt, in einem Speiserestaurant und in einer Teestube. Abends kehrte sie wieder in die Gegend zurück, in der sie ihr bisheriges Leben verbracht hatte. Das Hoxton Gate, wo sich die Sidney Bar befand, lag nur eine halbe Meile von ihrer Wohnung entfernt. Es war eine finstere Gegend. Zwischen den Hoxton Bassins und dem Canal zogen sich graue Häuserreihen hin. Dazwischen muffige Hinterhöfe, Lagerplätze und verödete Fabriken. Die Sidney Bar machte äußerlich keinen Unterschied von den schäbigen Häusern der Nachbarschaft. Innen war sie etwas freundlicher ausgestattet. Aber man sah doch sofort, daß die Gäste dieses Lokals niederer Herkunft waren. Die kahlen Wände waren mit billigem Flitter verkleidet. In einer Ecke plärrte ein veralteter Musikautomat. Vor der Theke drängten sich Eckensteher und Schnorrer. Auch Mädchen mischten sich dazwischen. Die frühreifen Dinger waren nicht viel teurer als eine halbe Flasche Schnaps. Als Evelyn Bloom die verkommene Kneipe betrat, merkte sie erst so recht, wie tief sie eigentlich doch schon gesunken war. In einem
solchen Lokal hätte Oliver nie verkehrt. Es hätte eine entsetzliche Szene gegeben, wenn er sie hier gesehen hätte. Aber er war ja tot. Er würde ihr nie wieder Vorwürfe machen. Betreten blickte sie sich um. Verstohlen musterte sie die Gäste. Der Ekel und die Scham würgten sie im Halse. Gepreßt atmete sie die stickige Luft ein und aus.
Dann erkannte sie plötzlich ein paar Männer, die ihr flüchtig im Gedächtnis geblieben waren. Sie hatte sie dann und wann einmal mit Joseph Hattan zusammen gesehen. Es mußten seine Freunde sein. Zögernd kam Evelyn Bloom an den Tisch heran. Sie sah sich von sechs Augenpaaren angestarrt. Sie blickte in verschlagene Gesichter und lauernde Mienen.
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