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Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)

Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)

Titel: Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sloan Wilson
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Bett, noch immer im Schlafanzug. Ihre Miene zeigte Entschlossenheit, und die Hände hatte sie störrisch im Schoß gefaltet. Auf der anderen Seite des Zimmers zog sich Barbara langsam an. Sie wirkte angespannt.
    »Was ist los, Mädels?«, fragte Tom. »Janey, wenn du dich nicht schleunigst anziehst, kommst du noch zu spät.«
    »Ich gehe nicht in die Schule«, sagte Janey.
    »Warum nicht?«
    »Ich gehe einfach nicht.«
    »Du musst aber«, sagte Tom. »Dafür gibt’s ein Gesetz. Und außerdem willst du doch nicht groß werden, ohne etwas zu wissen.«
    »Ich gehe aber nicht«, sagte Janey. Sie machte ein Gesicht, als würde sie gleich weinen.
    »Ist gestern in der Schule was passiert?«
    »Nein.«
    »War jemand gemein zu dir?«
    »Nein.« Nach einer Pause sagte sie noch: »Ich habe Angst.«
    »Angst wovor?«
    »Vorm Eingang.«
    »Vorm Eingang? Wie meinst du das?«
    Janey sagte nichts.
    »Was ist mit dem Eingang?«
    »Nichts«, sagte Janey.
    »Dann bringe ich dich heute zur Schule und du kannst mir den Eingang zeigen. Würde das was helfen?«
    Janey blickte zu Boden, das Gesicht hoffnungslos. Sie sagte nichts.
    »Die Schule macht Spaß, wenn du dich mal dran gewöhnt hast«, sagte Tom zögerlich. Janey sagte noch immer nichts.
    »Wenn du ein braves Mädchen bist und schön hingehst, bringe ich dir heute Abend auch eine Überraschung mit.«
    »Na gut«, sagte Janey traurig. »Wenn du mitgehst.«
    »Ich bringe dich hin«, sagte Tom und half ihr, sich anzuziehen.
    Beim Frühstück sagte Betsy: »Ich kann sie auch bringen – du verpasst sonst den Zug.«
    »Ich nehme einen späteren«, sagte Tom. »Irgendwas am Eingang stört Janey. Ich möchte mir doch gern die Schule ansehen.«
    Tom ließ Betsy mit Pete zurück, steckte beide Töchter ins Auto und fuhr zur Schule ab. Er erinnerte sich, wie er in seiner Kindheit von einem Chauffeur auf derselben Straße gefahren wurde, allerdings nicht zur staatlichen Schule. Sie waren daran vorbei zur South Bay Country Day School gefahren, auf die auch schon sein Vater gegangen war. Das Schulgeld hatte jährlich sechshundert Dollar betragen, und das schon in den zwanziger Jahren. Tom fragte sich, wie sie wohl jetzt war. Es sei doch lächerlich zu glauben, dass er seine Kinder an eine Privatschule schicken müsste, dachte er. In Westport waren die staatlichen Schulen genauso gut wie die privaten gewesen.
    Als sie sich der staatlichen Schule näherten, wurde der Verkehr dichter. Es war ein verwittertes Backsteingebäude im viktorianischen Stil, das mitten auf einem asphaltierten Spielhof stand, von dem ein Teil als Parkplatz abgetrennt war. Schule und Hof waren gleich einem Zoo von einem hohen Eisenzaun umschlossen. Tom fuhr durch ein Tor und fand einen Parkplatz direkt am Spielhof, wo Kinder verschiedenen Alters zusammen rannten, sprangen und schrien. Er ging mit seinen Töchtern die Haupttreppe der Schule hinauf und betrat einen schmalen, hohen Eingangsbereich, dessen Wände in einem matten Schokoladenbraun gestrichen waren. Darin stand der kräftige, schwer definierbare Geruch nach altem Schulgebäude – Schweiß, Kreidestaub und ein wenig passender Hauch billigen Parfüms.
    Plötzlich schrillte eine elektrische Klingel, harsch hallte sie von den kahlen Wänden wider. Sogleich polterte eine Horde Kinder durch die Tür, durch die Tom gerade getreten war, und stob durch den Flur. Rempelnd und schubsend strömten sie weiter vom Spielplatz herein. Der Eingang wurde schnell überfüllt, und jemand sagte mit hoher, schriller Stimme: »Nicht drängeln!« Die Kinder drückten sich weiter herein, sodass Tom sich plötzlich klaustrophobisch fühlte. Janey klammerte sich fest an seine Hand. Sie wirkte verängstigt. »Das ist der Eingang«, sagte sie.
    »Gestern ist sie hier umgestoßen worden«, berichtete Barbara.
    »Das wird nicht mehr vorkommen«, sagte Tom, und er empfand seine Stimme als falsch.
    »Ich gehe jetzt mal«, sagte Barbara. »Mein Zimmer ist oben.« Sie ließ Toms andere Hand los und wurde sogleich von der Menge mitgerissen. Ein paar Minuten später sah Tom sie noch kurz, wie sie die Treppe am Ende des Flurs hinaufging, die kleine Gestalt sehr aufrecht.
    »Bleib bei mir«, sagte Janey.
    »Ich bringe dich in dein Klassenzimmer«, sagte Tom. »Wo ist es?«
    Janey führte ihn zu einer Tür, durch die zahlreiche Kinder strömten, und blieb stehen. Tom sah einen kleinen Raum, in dem viele Pulte dicht an dicht standen. Wegen vorbeidrängender Kinder war es schwer, stehenzubleiben.

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