Der Mann im Schatten - Thriller
Kolarich«, stellte ich mich vor.
»Treten Sie ein«, bellte er. Ich ließ mich in einem der komfortablen Sessel nieder. Reggie Lionel war mittlerweile ein älterer Herr, so um die fünfundsechzig, was bedeutete, dass er sein Jurastudium zu einer Zeit absolviert hatte, als Schwarze auf den Unis noch nicht unbedingt willkommen waren. Er hatte Hürden nehmen müssen, mit denen ich es nie zu tun bekommen hatte.
»Heute mal ausnahmsweise nicht am Gericht«, sagte er und warf das Dokument zurück auf den unaufgeräumten Schreibtisch. Strafverteidiger wie Reggie Lionel arbeiten fast ausschließlich vor Ort am Gericht. Er musterte mich. »Haben wir einen gemeinsamen Fall?«
»Nein, nichts in der Art.« Offensichtlich hatte er angenommen, ich wäre in einem Prozess mit mehreren Angeklagten eingesprungen, und wir verträten je einen der Übeltäter. »Vielmehr wollte ich mich nach einem Namen aus der Vergangenheit erkundigen. Einer Ihrer Klienten in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern. Griffin Perlini.«
Seine Augen wanderten zur Decke, und sein Mund öffnete sich leicht. Ich fragte mich, ob Reggie Lionel sich wohl an jemanden erinnert hätte, dessen Verteidiger er vor über zwanzig Jahren gewesen war, hätte nicht auf allen Titelseiten die Geschichte von Perlinis verscharrten Opfern geprangt. Vielleicht, vielleicht auch nicht, jedenfalls war Perlinis Name in letzter Zeit in sämtlichen Medien aufgetaucht, also nickte Lionel.
Außerdem hätte mich interessiert, was in ihm vorging, als er erfuhr, dass sein Klient für diese schrecklichen Taten verantwortlich war. Vielleicht fragte er sich ja, ob seine erfolgreiche Verteidigung Perlinis es diesem Monster gestattet hatte, weitere Mädchen zu missbrauchen und zu töten. Es ist und bleibt das unlösbare Dilemma eines Strafverteidigers, der solche verkommenen Gestalten vertritt: Man will nicht verlieren, doch man fragt sich gleichzeitig, ob man wirklich gewinnen will.
Aber, hey, sogar ich bin der Meinung, dass jeder einen guten Anwalt verdient. Bloß müssen Typen wie Reggie schon einen sehr starken Glauben an die verfassungsmäßigen Rechte besitzen, um sich so für diesen Abschaum der Gesellschaft starkzumachen.
»Ein Sexualverbrecher«, sagte er.
»Man hatte ihn mit einem Verbrechen in Leland Park in Verbindung gebracht«, erinnerte ich ihn. »Ein kleines Mädchen namens Audrey Cutler.«
Er schloss die Augen und nickte. »Reichte aber nicht für eine Anklage. Keine Augenzeugen.«
Richtig. Ich fragte mich, ob er wusste, dass die einzige Augenzeugin, Mrs Thomas, Griffin Perlini nicht für den Täter hielt. Denn das war es letztendlich, was Mrs Thomas mir bei dem Besuch im Altenheim verraten hatte. Sie glaubte nicht,
dass es sich bei Griffin Perlini um die Person handelte, die sie vom Haus der Cutlers hatte wegrennen sehen.
»Außerdem hat man ihre Leiche nie gefunden«, fügte er hinzu.
Nein, sie hatten Audrey nie gefunden, zumindest damals nicht. Aber das Grab hinter der Grundschule würde das schon bald ändern.
»Griffin Perlini ist tot«, sagte ich. »Ich nehme an, Sie haben davon gehört.«
Seine Augen wurden schmal. Offensichtlich hatte er den Artikel in der Watch gelesen oder es in den Nachrichten gesehen. Aber tot oder nicht, Griffin Perlini war sein Klient gewesen, und wenn er befürchten musste, dass der Fall wieder aufgerollt wurde, machte ihn das sofort misstrauisch.
»Ich vertrete den Typen, dem sie den Mord anhängen wollen«, erklärte ich.
»Der Bruder des Mädchens, richtig? Sam oder so ähnlich.« Lionels Mienenspiel verriet eine gewisse Befriedigung. Diese Kerle tragen Scheuklappen, solange sie ihren Job erledigen, aber sie haben vermutlich nichts dagegen, wenn ihre verbrecherischen Klienten eine Form ausgleichender Gerechtigkeit ereilt. Ich hatte so meine Zweifel, ob Reggie Lionel für Griffin Perlini nach dessen Ermordung eine Kerze angezündet hatte.
»Ich will nachweisen, dass Perlini die kleine Audrey Cutler getötet hat«, fügte ich hinzu.
»Audrey.« Er nickte. »Genau. Audrey.« Dann schenkte er mir ein ironisches Lächeln. »Normalerweise läuft das allerdings so, dass ein Strafverteidiger seinen Klienten schützt und ihn nicht belastet.«
»Ja, hab ich auch schon mal gehört«, erwiderte ich, ein wenig zu schroff für jemanden, der um einen Gefallen bittet.
»Hören Sie, ich brauche einfach nur einen Hinweis, ob ich auf der richtigen Spur bin. Ich meine, die Cops haben sich damals sofort auf Ihren Mandanten gestürzt,
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