Der Mann im Schatten - Thriller
neunzig Prozent ihrer Fälle. Sie mochten ihre Klienten nicht und hatten sich angewöhnt, nicht allzu viel Mitgefühl für ihr Schicksal zu entwickeln, weil sie sonst nachts kein Auge mehr zubekamen. Und wenn ihren Mandanten das Geld ausging, ließen sie die Leute fallen wie heiße Kartoffeln, denn ansonsten waren sie selbst bald pleite. Sie hatten keine Armada junger Nachwuchsanwälte zur Verfügung, die bereitwillig Nachforschungen für sie anstellten und ihnen zuarbeiteten. Bei einem Prozess hatten sie von vornherein schlechte Karten, und das war ihnen absolut klar. Sie wussten zwar, wie man einen Zeugen der Gegenseite ins Kreuzverhör nahm, hatten aber keine Ahnung, wie man den eigenen ungehobelten Mandanten vorteilhaft präsentierte. Sie schluckten jeden Tag Medikamente gegen ihre Magengeschwüre und redeten sich ein, dass sie eine unverzichtbare Rolle im juristischen System spielten.
Abgesehen davon war es ein großartiger Job.
Unser Fall wurde ziemlich zu Anfang aufgerufen, da es sich um eine reine Routineangelegenheit handelte. Richterin Poker, die streng und seriös wirkte mit ihren grau gesträhnten Haaren, starrte über ihre Brille auf mich herab. »Mr Kolarich, Ihnen ist sicher klar, dass der Prozess am 29. Oktober beginnt? In weniger als einem Monat?«
»Ich weiß, Euer Ehren. Wir werden bereit sein.«
Sie ließ ihren Blick eine Weile auf mir ruhen, bevor sie sich Staatsanwalt Lester Mapp zuwandte.
»Kein Einspruch«, sagte Mapp. Vermutlich erfüllte ihn bereits freudige Erregung, weil ich in dem Fall so hoffnungslos hinterherhinkte. Insgeheim hatte er wohl damit gerechnet, dass ich mindestens weitere sechs Monate fordern würde.
Die Richterin schmunzelte ironisch über das großzügige Zugeständnis des Staatsanwalts, das ihm etwas zu rasch über die Lippen gekommen war. In dem Moment beschloss ich, dass ich sie mochte und sie möglicherweise dazu kriegen würde, auch mich zu mögen, vorausgesetzt, ich war gut in Form. »Bewilligt«, verkündete sie, und zwei Minuten später verließen Mapp und ich gemeinsam den Gerichtssaal.
Zum ersten Mal bot sich mir die Gelegenheit, ihn persönlich unter die Lupe zu nehmen. Man sah ihm an, dass er einige Zeit in einer noblen Kanzlei gearbeitet hatte. Er trug einen italienischen Anzug und eine schicke gelbe Krawatte. Alles in allem ein recht beeindruckender Mann, aber so wie er sich aufführte, war dieser Umstand vermutlich das Einzige, über das er und ich uns einig sein würden.
Er schüttelte mir die Hand und lächelte breit. »Freut mich, Sie zu treffen«, begrüßte er mich, obwohl wir uns noch nie begegnet waren. Auf mich wirkte er aalglatt, würde aber vor Gericht wohl eine gute Figur machen. »Haben Sie alle Unterlagen vom Pflichtverteidiger erhalten?«
»Er schickt sie mir heute rüber«, erwiderte ich.
Wir blieben vor den Aufzügen stehen.
»Sie sind bereit für den Prozess?« Sein Tonfall verriet, dass er mir das nicht abkaufte.
Ich hielt es für angeraten, seine Skepsis noch weiter zu schüren.
»Hey, ich hab Cutler erklärt, dass er verrückt sein muss, wenn er damit jetzt vor Gericht zieht.«
Er lächelte erneut, und seine Raubtieraugen musterten mich befriedigt. Ich wollte ihn glauben machen, dass ich auf einen Deal abzielte. Ich wollte ihn zuversichtlich stimmen, selbstsicher. Auf keinen Fall wollte ich wie eine ernstzunehmende Bedrohung auf ihn wirken.
»Na, Sie haben ja immer noch diesen Schwarzen, der aus dem Haus gestürmt ist«, sagte er und klopfte mir kurz auf die Schulter, bevor er in den Aufzug stieg.
Man hinterfragt die Dinge nicht groß, wenn man ein ichbezogener siebenjähriger Junge ist. Etwas weckt dich in der Nacht, ein vertrautes Geräusch. Dir wird bewusst, irgendwo schiebt jemand ein Fenster hoch. Ein Moment des Schreckens. Panik macht sich in dir breit, bis du schließlich beherzt die Augen aufreißt, sie auf das Fenster deines Zimmers richtest und erleichtert feststellst, das Geräusch kommt nicht von dort. Du spähst durch dein offenes Fenster hier im ersten Stock, durch das Fliegengitter, und lauschst. Aber du stellst dir keine Fragen. Weitere Geräusche, ein Schaben und Rascheln. Vielleicht könntest du diese Geräusche zuordnen, aber du versuchst es erst gar nicht. Du belauschst einfach nur, was geschieht. Später wird dir natürlich bewusst, dass diese Geräusche von jemandem verursacht wurden, der durch eine Fensteröffnung gekrochen ist. Dann herrscht Stille. Du versinkst wieder in deiner eigenen Welt,
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