Der Mann im Schatten - Thriller
ja nicht ahnen können, dass er seine Arme deshalb nicht bewegte, weil er darin ein zweijähriges Mädchen trug.
Ich erinnerte mich noch genau an den nächsten Tag. Mrs Thomas hatte zitternd und schluchzend Sammys Mutter umarmt und sich immer wieder bei ihr dafür entschuldigt, nicht mehr unternommen zu haben. Aber was hätte sie groß tun können?
Ich fragte mich, ob Mrs Thomas vielleicht noch lebte. Möglich war es. Weit weniger wahrscheinlich war es, dass ich Griffin Perlini den Mord an Audrey Cutler nachweisen konnte.
Ich fuhr weiter, bog an der 47th ab, rollte sechs Blocks in westlicher Richtung, dann drei Blocks nach Süden und zwei weitere Blocks nach Westen. Das Haus lag etwa in der Mitte des Blocks. Es war im Ranchstil erbaut, mit einem Dach, das ganz offensichtlich leckte, einer alten Kunststoffverkleidung und einem vernachlässigten Rasen. Früher war ich ein paarmal
an dem Haus vorbeigelaufen, hauptsächlich aus Neugier. Ich hatte es niemals betreten oder auch nur erwogen, es zu betreten. Stattdessen waren mir andere Dinge durch den Kopf gegangen, etwa ein paar Kugeln durchs Fenster zu jagen; doch als Teenager hatte ich mich nur getraut, am Haus von Griffin Perlini vorbeizuschleichen und es anzustarren.
Eine ältere Dame trat plötzlich auf die Veranda und fischte die Post aus dem Briefkasten. Ich stieg aus dem Wagen und ging auf sie zu. Als sie mich bemerkte, wirkte sie kein bisschen verängstigt. Diese Gegend war alles andere als sicher, aber wegen des Gerichtstermins trug ich immer noch meinen Anzug und machte vermutlich insgesamt nicht den Eindruck, als führte ich Böses im Schilde.
»Mrs Perlini?«, fragte ich aufs Geratewohl. Griffin Perlini hatte nicht mit seiner Mutter zusammengelebt, als Audrey entführt worden war, und ich hatte keine Ahnung, was danach mit dem Haus geschehen war.
Die Frau antwortete nicht, wandte sich aber in meine Richtung, womit sie Gesprächsbereitschaft signalisierte. Hatte Griffin Perlinis Mutter sein Haus übernommen, nachdem er weggezogen war?
»Mrs Perlini?«, wiederholte ich, während ich mich langsam der Veranda näherte.
»Kann ich Ihnen helfen?« Ihre dünne Stimme passte zu ihrer mageren Gestalt. Sie trug einen Pullover und eine graue Hose, farblich passend zu ihren langen offenen Haaren.
Wow. Schwein gehabt. Diese Frau war tatsächlich Griffin Perlinis Mutter.
»Mrs Perlini.« Ich blieb kurz vor der Veranda stehen. »Mein Name ist Jason Kolarich.« Ich deutete hinter mich. »Ich bin hier in der Gegend aufgewachsen.«
»Oh.« Sie klang jetzt etwas freundlicher, zeigte aber kein Lächeln. »Kannten Sie... waren Sie ein Bekannter von...«
»Griffin? Nein, Ma’am, nicht wirklich. Aber wegen ihm bin ich hier.«
Misstrauisch runzelte sie die Stirn. Sie blieb mir weiter zugewandt und musterte mich schweigend.
»Ich bin Anwalt, Mrs Perlini. Ich vertrete Sammy Cutler.«
Sie nickte, als hätte sie etwas Derartiges bereits erwartet. Ich hätte mir ein ganzes Spektrum von Reaktionen vorstellen können, doch sie schien meine Anwesenheit einfach zu akzeptieren, als hätte sie sich damit abgefunden, einem Hausierer etwas abzukaufen, das sie nicht unbedingt brauchte.
Sie neigte den Kopf wie zu einem vertraulichen Gespräch. »Kannten Sie die Cutlers?«
»Ich habe direkt neben ihnen gewohnt.«
»Verstehe.« Ihr Blick richtete sich auf einen fernen Punkt irgendwo über meinem Kopf. Ich fragte mich, wie sie wohl mit dem fertigwurde, was aus ihrem Sohn geworden war, und mit den Verbrechen, die er verübt hatte.
»Möchten Sie vielleicht hereinkommen?« Mrs Perlini ging zurück in ihr Haus. Ich stieg die Treppe hinauf und öffnete die schäbige Fliegengittertür. Ich hatte keine Ahnung, wie ich vorgehen wollte oder was ich hier zu finden hoffte. Das Ganze war ein Schuss ins Blaue gewesen. Und nun fand ich mich plötzlich in einem Gespräch mit Griffin Perlinis Mutter wieder.
Ich setzte mich auf eine abgewetzte Couch, während sie in der Küche herumhantierte. Den Geräuschen nach zu urteilen, kochte sie Kaffee. Ich wollte zwar keinen Kaffee, war aber mit allem einverstanden, was dieses Gespräch in die Länge zog.
Die Räume wirkten trist, aber sauber. Die Wände waren limettengrün
gestrichen und mit Fotos behängt. Auf einigen von ihnen erkannte ich Griffin, aber offensichtlich gab es noch mehr Kinder in der Familie. An prominenter Stelle hing ein großes Kruzifix.
Fünf Minuten später stellte Mrs Perlini eine Tasse schwach duftenden Kaffee vor mir ab. Sie
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