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Der Mann im Schatten - Thriller

Der Mann im Schatten - Thriller

Titel: Der Mann im Schatten - Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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und benommen von Müdigkeit sinkt dein Gesicht langsam zurück auf das kühle Kissen. Vielleicht bist du sogar einen Moment lang weggedöst, bevor du erneut hochschreckst. Dasselbe schabende Geräusch, diesmal etwas hektischer, gewaltsamer. Und das, was du als Nächstes
hörst, erkennst du ohne Probleme - Füße, die übers Gras davonrennen.
    Aber du bist ein kleiner Junge. Du stellst keine Zusammenhänge her. Natürlich hast du den Eindruck, dass etwas nicht stimmt, aber du verfolgst den Gedanken nicht weiter. Vorsichtig steigst du aus deinem Bett und tappst ans Fenster. Vermutlich ist es kein Zufall, dass du damit wartest, bis die Schritte verklungen sind. Du blickst hinunter zum Fenster des Nachbarhauses, zum Zimmer von Audrey Cutler, Sammys kleiner Schwester. Ihr Fenster steht offen, der Vorhang bewegt sich sacht im Wind.
    Du kehrst in dein Bett zurück. Wahrscheinlich versinkst du erneut in Schlaf. Jedenfalls hast du jedes Zeitgefühl verloren, und anfänglich ist dir völlig unklar, was geschieht. Du brauchst einen Moment, bevor dein Kopf hochfährt und du die Stimme von Sammys Mutter erkennst, die einen entsetzlichen Schrei ausstößt.
    Später wirst du behaupten, du hättest nichts gehört, du hättest fest geschlafen. Niemand erwartet etwas anderes von dir. Und wie könntest du ihnen auch groß von Nutzen sein? Schließlich hast du Audreys Entführer nicht gesehen. Trotzdem wirst du dich immer wieder fragen: Hättest du nicht irgendetwas unternehmen können?
     
    Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte, als ich das Abfahrtsschild nach Leland Park entdeckte. Mein altes Viertel sah im wahrsten Sinne des Wortes so aus - alt. Vermutlich verdankte sich das zum Teil der Perspektive eines Erwachsenen, der zu den eigenen Wurzeln zurückkehrt, aber Leland Park war wirklich heruntergekommen. Ich hatte mit irgendeiner Form von Veränderung gerechnet, fand aber zu meiner
Überraschung nichts davon vor. Die Häuser waren dieselben, nur um ein paar Jahrzehnte gealtert. Die identischen verwahrlosten Bungalows und die gelegentlichen Verkaufsschilder davor. Dies war kein Stadtviertel, das Bauherren anlockte. Es war eine Nachbarschaft, aus der die Menschen wegzogen, sobald sich ihnen die Möglichkeit dazu bot.
    Ich bog in meine alte Straße ein, bremste scharf, als ein schwarzer Junge direkt vor mir quer über die Straße einem Gummiball nachjagte. Also doch eine Veränderung. Früher war dieses Viertel Weißen vorbehalten gewesen. Unter den Anwohnern gab es ein ungeschriebenes Gesetz: Man verkauft sein Haus nicht an Schwarze. Irgendwo hatte ich vor ein paar Jahren von einem Prozess gelesen - eine Initiative hatte gegen die rassistischen Vergabepraktiken der Immobilienmakler und der Anwohner geklagt und damit offenbar Erfolg gehabt.
    Ich stoppte vor dem vierten Gebäude nach der Ecke Graynor und 47th. In diesem zweistöckigen holzverkleideten Haus mit gemauerter Veranda und Kiesauffahrt war ich aufgewachsen. Alles wirkte wie früher, nur die Holzverkleidung war teilweise heruntergerissen, und auf der Veranda stand eine Schaukel. Das Grundstück von etwa zweitausend Quadratmetern kam mir viel kleiner vor als in der Erinnerung.
    Der Anblick weckte keinerlei Gefühle in mir. Zwar konnte ich meine Mutter vor mir sehen, wie sie auf der Veranda stand und nach mir rief; meinen Vater, der ein Coors trank, während er an seinem Chevy in der Einfahrt herumschraubte; meinen Bruder Pete, der im Kreis auf der schmalen Rasenfläche vor dem Haus herumjagte; Sammy, der herüberkam, um mich zur Schule abzuholen. Doch es löste nichts in mir aus. Nicht das Geringste. Meine Gefühle waren über Monate
hinweg täglich Marathon gelaufen und brauchten eine Verschnaufpause.
    Nebenan lag Sammys früheres Zuhause. Ein Deutscher Schäferhund bellte mich aus einem Drahtverschlag an. Ich musterte das Fenster an der Seite des Hauses und stellte mir vor, wie Griffin Perlini die kleine Audrey herausgeschafft hatte. Mrs Thomas, eine Nachbarin ein paar Häuser weiter, hatte alles von ihrem Schlafzimmerfenster aus verfolgt; sie hatte beobachtet, wie er die Graynor hinunterrannte und auf der 47th rechts abbog. Abgesehen von Perlini war Mrs Thomas die Letzte, die Audrey Cutler lebend gesehen hatte. Ihr war natürlich nicht klar gewesen, was da vor sich ging. Sie war eine Witwe mittleren Alters, die aus über hundert Metern Entfernung Zeuge wurde, wie jemand merkwürdig vornübergebeugt die Straße hinunterhastete, ohne die Arme zu bewegen. Sie hatte

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