Der Mann im Schatten - Thriller
für die sechste Etage. »Nach Ihrem Anruf gestern hat Lilly die ganze Zeit über Sie gesprochen«, bemerkte er.
Mrs Thomas war seit ihren Fünfzigern verwitwet - damals war ich noch klein gewesen, daher hatte ich jetzt Probleme, mich darauf zu besinnen, woran ihr Mann gestorben war. Ich erinnerte mich vor allem daran, wie Mrs Thomas immer in ihrem Garten gewerkelt hatte und dass sie immer die Erste in der Kirche gewesen war. Ihre Ehe war kinderlos geblieben. Ich konnte sie mir nur ziemlich einsam vorstellen, andererseits
schadete es wohl nicht, sich im Alter mit anderen Senioren zu umgeben.
»Wie geht es ihr?«, fragte ich den Pfleger, den sein Namensschild als Darrell auswies.
»Oh, Lilly?« Er strahlte. »Sie ist ein Schatz. Sie hält sich gut. Wirklich gut. Eine sehr umtriebige alte Dame.«
Wir stiegen im sechsten Stock aus, und das Ganze entpuppte sich nun tatsächlich als eine Art Apartmenthaus. Der Flur war schwach beleuchtet, und die Wände waren weiß gestrichen, mit einem horizontal verlaufenden helllila Balken in der Mitte. Eine Frau bewegte sich langsam mit einer Gehhilfe den Flur hinunter und blieb stehen, als sie Darrell und mich bemerkte. Darrell sagte irgendetwas Aufmunterndes zu ihr, was sie offensichtlich zu schätzen schien, auch wenn kein Lächeln ihr Gesicht erhellte.
Darrell klopfte an die Tür von Zimmer 607 und rief nach Lilly, wobei mich die Lautstärke seiner Stimme erstaunte.
Mrs Thomas musste bereits in den hohen Achtzigern sein. Ich erkannte sie an ihren Augen wieder und daran, wie sie den Kopf leicht schräg geneigt hielt. Auf der Straße wäre ich vermutlich einfach an ihr vorbeigegangen. Ihr Gesicht schien wie mit einer zusätzlichen Hautschicht bedeckt. Trotzdem wirkte sie rüstig, leicht altersgebeugt, aber schlank, und mit einem wachen Funkeln in den Augen.
Sie legte die Hände an die Wangen und ihr kleiner Mund öffnete sich. »Jason, Jason«, sagte sie leise. »Oh, schau sich einer den Jungen an.«
Ich nahm ihre Hand in meine, und sie legte zur Begrüßung die Arme um mich. Ich umfing sie vorsichtig, während sie meinen Namen mehrmals wiederholte. Sie roch nach Blumen. Der ganze Raum duftete nach Blumen.
Sie nahm mich am Handgelenk und führt mich in ihr kleines Apartment. Auf dem Kaffeetisch standen Teller mit Sandwiches und Kuchenstückchen. Sie war immer eine begeisterte Köchin gewesen. Besonders an Feiertagen hatte uns Mrs Thomas jedes Mal Kuchen und Plätzchen in sämtlichen Variationen gebracht, und in meiner beschränkten kindlichen Wahrnehmung hatte ich mich immer gefragt, ob sie niemand anderen hatte, für den sie backen konnte.
Gefühle von Glück und Zuneigung durchströmten mich. Deutliche Erinnerungen an meine Kindheit mischten sich mit dem Schmerz, dass diese Tage vergangen waren, dass das Leben unbarmherzig weitermarschierte und alles in seinem Weg niedertrampelte. Mrs Thomas war in einem Alter, in dem das Wort Hoffnung eine neue und andere Bedeutung gewann. Und plötzlich wurde mir bewusst, dass auch für mich Hoffnung vor vier Monaten noch etwas ganz anderes bedeutet hatte.
Gut eine Stunde lang ließ ich ihre Fragen über mich ergehen, so wie damals nach der Schule die Fragerei meiner Mutter. Mom war mir damit immer wahnsinnig auf die Nerven gegangen. Aber wie hätte ich mich wohl gefühlt, hätte sie mich nicht gefragt? Man macht seine Sache als Eltern immer dann gut, wenn Kinder die Fürsorge als selbstverständlich betrachten.
Ich bemühte mich redlich, ihre Wissenslücken zu füllen. Dabei bat mich Mrs Thomas ständig, sie Lilly zu nennen, aber ich konnte nicht. Ich brachte es einfach nicht fertig. Sie wusste, dass meine Mutter gestorben war, und sie vermied es, nach meinem Vater zu fragen, der im Gefängnis saß. Also redeten wir viel über Pete - wobei ich mit keinem Wort erwähnte, dass er ein paarmal wegen Drogendelikten geschnappt worden war
und sein Leben nicht richtig in den Griff bekam -, und wir redeten natürlich über mich.
Auch hier traf ich eine beschönigende Auswahl, berichtete zu ihrer großen Freude von meiner kurzen Karriere als Starathlet und von meinem College-Stipendium. Sie schien nicht zu wissen - oder vielleicht hatte sie es vergessen -, dass ich nach einer Schlägerei mit einem Teamkameraden aus der Mannschaft geflogen war. Sie wusste von meinem Jurastudium und fragte mich nach meiner Arbeit als Anwalt. Darüber hinaus wusste sie wenig über mein Leben, und als sie den heiklen Punkt ansprach, beschränkte ich mich auf
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