Der Mann im Schatten - Thriller
»Ich habe es Char gegenüber erwähnt, aber sie war damals in Oregon und wollte nicht zurückkommen. Ich habe zwar einen Brief geschrieben, ihn aber nie abgeschickt.« Er blickte zu seiner Frau. »Ich denke, Archie könnte ausgesagt haben.«
»Ich glaube, das hat er«, erwiderte sie.
Sie meinten Archie Novotny, den Vater des anderen Opfers bei der Sommerfreizeit. Perlini war während des Prozesses sowohl des Missbrauchs der Tochter der Drurys wie der Novotnys angeklagt gewesen. Archie war der Nächste auf meiner Liste.
»Ich weiß von fünf Opfern, die Leichen hinter der Schule nicht eingeschlossen«, sagte ich. »Da ist zunächst Sammys Schwester, auch wenn Perlini für dieses Verbrechen nie verurteilt worden ist. Dann Ihre Tochter und Jody Novotny, die beiden Fälle, in denen es zu... zu einem tatsächlichen Kontakt kam. Und dann noch die beiden Mädchen in den späten Siebzigern, wobei es sich hier lediglich um unsittliche Entblößung handelte. Es fand wohl keinerlei physischer Kontakt statt.«
»Das entspricht auch meinem Wissenstand«, erklärte Robert.
Die ersten beiden Opfer - oder besser gesagt ihre Familien - hätten längst jede Menge Gelegenheiten gehabt, Griffin Perlini zu töten, bevor er wegen der Missbrauchsfälle Drury und Novotny angeklagt wurde. Es gab keinen rechten Grund, warum diese beiden Familien viele Jahre später plötzlich Rache üben sollten, wenn sie nicht bereits vorher die Notwendigkeit verspürt hatten.
Und die Drurys kamen als mögliche Tatverdächtige nicht in Betracht. Niemals.
Blieb eine letzte Möglichkeit - mein nächster Besuch, Archie Novotny.
27
Irgendwann nach dem Missbrauch seiner Tochter durch Griffin Perlini war Archie Novotny nach Marion Park gezogen, eine Vorstadt im Südwesten. Als ich durch die Siedlung rollte, fiel mir auf, wie sehr sie sich verändert hatte, seit ich als Kind das letzte Mal hier gewesen war. Ein starker Latino-Einfluss, von dem in meiner Jugend kaum etwas zu spüren war, machte sich in Form von Ladenschildern und Reklametafeln geltend. Auch die Gangs hatten hier Einzug gehalten, ein Umstand, der mir schon aus meiner Zeit als Staatsanwalt hinreichend bekannt war. Aber ließ man die zunehmende Kriminalität einmal außer Acht, stellte Marion Park für die verbliebenen Mittelklasse-Hausbesitzer immer noch eine hübsche Enklave knapp außerhalb der Stadtgrenze dar.
Archie Novotny lebte im älteren Teil des Ortes, wo sich die kleineren Häuschen zusammendrängten, zu denen fast ausschließlich Sackgassen führten. Die Immobilienmakler warben damit, dass die Betonklötze, die am Ende jedes Häuserblocks in die Straße eingelassen waren, für langsameren Verkehr sorgten und damit mehr Sicherheit für die in den Straßen spielenden und Fahrrad fahrenden Kinder garantierten. In Wahrheit bestand ihre Funktion jedoch vor allem darin, Schießereien im Vorbeifahren zu verhindern.
Inzwischen war es kurz vor sechs Uhr abends, und ich musste Shaunas Wagen im Büro abliefern, damit sie nach Hause fahren und ich meinen eigenen Wagen übernehmen konnte. Je später es wurde, desto leichter konnten Smiths Leute bemerken, dass ich sie getäuscht hatte. Mir war es wichtig, dass sie ihre Überwachung für lückenlos hielten.
Ich klingelte und wartete auf den Zehenballen wippend auf der Veranda.
»Tür ist offen!«, rief eine Stimme von drinnen.
Es fühlte sich an wie in alten Zeiten, als die Menschen ihre Türen noch nicht abschlossen und Gäste hereinbaten, ohne sie vorher gründlich unter die Lupe genommen zu haben.
Ich schob die Tür auf und blieb auf der Schwelle zu einem schmuddeligen, schwarzweiß gekachelten Flur stehen. »Mr Novotny, hier ist Jason Kolarich.« Ich schloss die Tür hinter mir. Zu meiner Linken führte eine Wendeltreppe nach oben. Vor mir lagen der Flur und ein kleiner Raum. Rechts stand ein offener Wandschrank mit Mänteln und Windjacken, im obersten Fach Mützen, Handschuhe und Schals, und unten drin Schuhe und Stiefel.
»Sie können Archie zu mir sagen«, tönte die Stimme.
In Ordnung, Archie, aber ohne ausdrückliche Einladung kam ich nicht nach oben.
Ich wartete gut fünf Minuten und genoss die vergleichsweise warme Luft im Haus. Endlich polterte ein Mann ein paar Stufen die Treppe herunter.
»Kommen Sie rauf, Jason.«
Meinem ersten Eindruck nach war der Kerl, der ein Flanellhemd und Kordhosen trug, eine Art Paul Bunyan, der sagenumwobene Holzfäller, auf Arbeitslosenhilfe. Ich kletterte in den ersten Stock hinauf, in dem
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