Der Mann mit dem roten Zylinder
der Orchesterloge dringt jetzt leiser Trommelwirbel. Der Herr im blauen Frack betritt wieder die Manege. Als er den Arm hebt, reißt der Trommelwirbel schlagartig ab.
„Meine Damen und Herren, liebe Gäste. Wenn Sie jetzt in Ihr Programmheft schauen, werden Sie unter der folgenden Nummer ein Fragezeichen finden. Wir wollten mit diesem kleinen Trick Ihre Neugier wecken und — Ihre Spannung steigern. Was wir Ihnen jetzt unter dieser Programmnummer bieten, wird für Sie zu einem einmaligen Erlebnis werden. Sie erleben jetzt Kai Vestallo, den größten Drahtseilartisten der Gegenwart. Er wird Ihnen in vierzehn Meter Höhe auf einem schwankenden Drahtseil akrobatische Kunst in höchster Vollendung bieten.“
Der Herr im Frack macht eine kleine Pause, bevor er mit erhöhter Stimme fortfährt:
„Meine Damen und Herren, ich stelle Ihnen vor — Kai Vestallo oder — den Mann mit dem roten Zylinder!“
War eben noch Totenstille im Zelt, so setzt jetzt ein Gemurmel ein, das sich immer mehr steigert und sich bald zu einem begeisterten, orkanartigen Beifall auswächst.
Man steht auf den Bänken, das Rufen und Klatschen will nicht enden. Die Spannung entlädt sich in einem Lärm, der die Musik des Orchesters übertönt.
Ein schlanker Mann hat die Manege betreten.
Er steckt in einem schwarzen Trikot, das auf der Brust mit den eingestickten Buchstaben K und V verziert ist.
Auf seinem Kopf aber trägt er einen leuchtendroten Zylinder, den er in diesem Augenblick abnimmt.
Mit einem Handgriff drückt er ihn zu einer flachen Scheibe zusammen und läßt ihn wie einen Bierdeckel in die Zuschauer fliegen.
Hunderte von Händen strecken sich danach.
Mitten in den Jubel hinein verlöschen die Scheinwerfer bis auf einen. Im Kegel dieses einen Lichtstrahls steht Kai Vestallo. Mit wenigen geschmeidigen Schritten ist er am Seil, und mit Windeseile zieht es ihn in die Höhe.
Als er das kleine Podest neben dem Schleppseil erreicht hat, flammen zwei weitere Scheinwerfer auf, während die Kapelle wieder zu spielen beginnt.
Das letzte Klatschen und Rufen verstummt.
Einsam und ganz für sich allein steht der Mann oben am Seil. Unter sich die gähnende Tiefe von vierzehn Meter, die von oben wie ein einziges schwarzes Loch anmutet.
Kai Vestallo, alias der Mann mit dem roten Zylinder, beginnt seine Nummer.
Mehr als einmal geht das Entsetzen durch die sechstausend Zuschauer. Sie spüren instinktiv, daß das, was dieser Mann da oben tut, ein Spiel mit dem Tode ist. Sie begleiten jeden Abrutscher mit einem tiefen Stöhnen.
Auch Jonas und Ola hängen mit ihren Augen unter der Zeltkuppel. Sie haben längst vergessen, daß der Mann dort oben derjenige ist, den sie verzweifelt zu finden hofften. Sie sind eingefangen von dem Bann der tollkühnen Leistung.
Auch Erik Olanson und Fredrik Hake haben nur Blicke für den Mann auf dem Drahtseil. Und wenn man wissen will, wie aufgeregt Fredrik, das Horchgerät, ist, braucht man nur seine Ohren anzusehen. Seit dem Augenblick, in dem der Mann mit dem Zylinder die Manege betreten hat, haben sie noch keine Sekunde stillgestanden.
Die Vorführung ist zu Ende.
Nach Sekunden des Schweigens beginnen die Zuschauer zu rasen. Minutenlang brandet der Beifall von allen Rängen, Parkettplätzen und Logen.
Gegenstände werden in die Arena geworfen und Blumen gebracht.
Das Toben hält noch an, als schon Akteure der nächsten Nummer die Manege betreten haben.
Noch einmal tritt Kai Vestallo hinter dem Vorhang hervor.
Und noch einmal steigert sich der Beifall zu einem infernalen Lärm.
Man ist zufrieden. —
Die Spannung läßt nach und — man unterhält sich wieder.
Eine letzte Überraschung
Olanson, Fredrik und die Zwillinge quälen sich, eingekeilt in eine brodelnde Menschenmenge, dem Ausgang zu.
Schritt für Schritt schieben sie sich vorwärts. Während Ola unentwegt auf Jonas einredet, sind Fredrik und sein Chef auffallend schweigsam. Es entgeht den vieren, daß ihnen seit Verlassen der Loge jemand folgt.
Die Verfolgerin hat es wahrlich schwer, ihnen auf den Fersen zu bleiben. Immer wieder geschieht es, daß sich Menschenknäuel zwischen sie und die Verfolgten drängen.
Endlich haben Erik Olanson und seine Begleiter den Wagen erreicht.
Fredrik, Jonas und Ola sind schon eingestiegen, als sich auch Olanson hinter das Steuer schieben will.
Da spürt er, wie ihn jemand festhält. Überrascht wendet er sich um.
„Verzeihung, Herr Olanson... kennen Sie mich noch?“
Erik Olanson sieht sich
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